Schade, dass die Geschichte nicht stimmt. Sie wäre zu schön. Doch die Bezeichnung des Münchner Rüstungs-Start-ups und Drohnen-Produzenten Helsing leitet sich nicht vom Namen des mutigen Arztes ab, der im gleichnamigen Buch den Vampir Dracula jagt. Gundbert Scherf, Co-Chef und einer der drei Gründer des Unternehmens, lacht, wenn er auf die Deutung angesprochen wird. Helsing ist aber das Resultat unternehmerischer Zwänge, hieß ein früheres Start-up von Scherfs Vorstandskollegen und Mitgründer Niklas Köhler Hellsicht. Außerhalb des deutschen Sprachraums funktioniert der Begriff nicht optimal. Daher wurden zwar die ersten drei Buchstaben beibehalten, bekamen allerdings ein „sing“ angehängt, schließlich haben die Firmengründer bewusst ein europäisches Unternehmen erschaffen. Helsing soll Menschen in allen Ländern des Kontinents einigermaßen leicht über die Lippen gehen.
Helsing-Manager wollen demokratische Werte schützen
Die Unternehmer wollen mithelfen, „demokratische Werte und offene Gesellschaften“ zu schützen. Sich frei äußern zu können und das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, liegt den Helsing-Gründern, zu denen als Dritter im Bunde Torsten Reil gehört, am Herzen. Mit dem Narrativ, wie das Neudeutsch heißt, werben sie ausdauernd für sich. Insofern würde es sich marketingmäßig bestens fügen, wenn die Gründer mit ihren softwaregestützten und künstliche Intelligenz nutzenden Rüstungstechnologien Feinden der Freiheit und Demokratie, etwa Wladimir Putin, Gegenwehr leisten, wie van Helsing Dracula die Stirn geboten hat.
Drohnen des mit einer Bewertung von zwölf Milliarden Euro wertvollsten deutschen Start-ups werden in großer Zahl von der ukrainischen Armee gegen den Aggressor Russland eingesetzt. Mit Partnern des von Moskau überfallenen Landes hat die Firma schon knapp 2000 der gekauften 4000 Kampfdrohnen an die ukrainischen Streitkräfte ausgeliefert. Es könnten weitere 6000 neu entwickelte Drohnen mit dem Namen HX-2 folgen, wenn Deutschland die Gelder freigibt. Die Präzisionswaffen fliegen bis zu 100 Kilometer weit.
Die Helsing-Chefs öffnen erstmals ihre Räume in München für dutzende Journalisten aus Europa. Auch ein ukrainischer Reporter ist gekommen. Die Ingenieure und Softwareentwickler erklären den Berichterstattern hinter den Mauern eines unscheinbaren Backsteingebäudes in abgedunkelten Räumen, wie unbemannte und mit künstlicher Intelligenz aufgerüstete Flugkörper funktionieren.
Menschen bedienen die Helsing-Drohnen
Smartphones müssen in den abgeschotteten Räumen im Münchner Werksviertel in Schließfächern weggesperrt werden. Darauf legt das Sicherheitspersonal Wert. Einst standen hier im Areal hinter dem Münchner Ostbahnhof die Pfanni-Werke. Bis zu 1000 Beschäftigte produzierten Kartoffelpüree und Kartoffelknödel. Später wurde dort im Kunstpark Ost in diversen Diskos gefeiert und getanzt. Nun ist der Ernst des Lebens eingekehrt. Drohnen werden immer wichtiger, um sich Angreifern wie Russland zu erwehren.
Dank KI, so lautet das Versprechen der Helsing-Entwickler, sei die neue Drohne resistent gegen elektronische Kriegsführung und Störmaßnahmen. Hier kommt Helsings spezielle Steuerungs- und Aufklärungssoftware ins Spiel: So kann „ein menschlicher Bediener“, wie das im Jargon des größten deutschen Verteidigungs-Start-ups heißt, ganze Drohnen-Schwärme kontrollieren.
Die Firmenlenker legen Wert darauf, „dass am Ende immer noch ein Mensch die Entscheidung trifft, ob und welches Ziel angegriffen wird“. Sie führen ethische Motive ins Feld. Am Ende bekämpft nicht eine KI Putins Truppen, sondern eine Person aus Fleisch und Blut. Die kompakte HX-2-Drohne wiegt zwölf Kilo und ist mit einer maximalen Geschwindigkeit von 220 Kilometern pro Stunde unterwegs. Das Geschoss ist vielfältig beladbar, etwa mit panzerbrechender Munition. Ein Mitarbeiter lässt einen der schwarz gehaltenen Drohnen-Flügel rumreichen. Er ist leicht und wirkt dennoch robust. Drohnenmodelle stehen auf Gestellen in einem Raum. In dem Labor dominieren dunkle, dem Ernst der Sache angemessene Farben.
Dank der Aufträge sieht sich Helsing als einer der weltweit führenden Drohnen-Anbieter. Die neue Offenheit des lange zurückhaltenden Unternehmens geht nicht so weit, dass die Führungsriege Einblick in die Bilanzen gewährt, also Umsatzzahlen nennt oder offenlegt, ob und was am Ende übrigbleibt. So abgedunkelt die Räume sind, so wenig Licht fällt auf die Finanzergebnisse. Zumindest ist bekannt, dass Helsing derzeit nicht an die Börse strebt sowie rund 600 Leute in München und an weiteren Standorten in Europa beschäftigt. Veröffentlicht wurde auch, dass die Firma nach einer weiteren Finanzierungsrunde insgesamt rund 1,37 Milliarden Euro an Risikokapital eingesammelt hat. Damit hat sich der Rüstungsbetrieb den Rang eines Einhorns erkämpft, wie in der Gründersprache ein Start-up beschrieben wird, das mit mehr als einer Milliarde bewertet wird, wobei der Begriff „Einhorn“ auf die Seltenheit des Vorgangs abzielt. Mit Vampiren hat Helsing nichts zu tun, mit den tierischen und bei Kindern beliebten Fabelwesen dafür eine Menge.
Rüstungsspezialisten aus München: Bei Helsing bleiben viele Fragen offen
Der wundersame Aufstieg der Firma geht weiter und viele Fragen bleiben offen. So räumt das Management ein, es gebe bisher eine Produktionslinie für Drohnen in Süddeutschland. Wo genau die Fertigungsanlage steht, bleibt unbeantwortet. Den Betrieb nennt Helsing eine „Resilienz-Fabrik“. Weitere Einrichtungen der Art sollen folgen. Fest steht, dass die Münchner H3 Grob Aircraft gekauft haben. Das rund zehn Kilometer nordöstlich von Mindelheim in Tussenhausen-Mattsies sitzende Unternehmen mit etwa 275 Beschäftigten baut Trainingsflugzeuge. Damit drängt sich eine Spekulation auf: Produziert das Unternehmen künftig auch dort Drohnen? Dazu machen Verantwortliche der Firma bei der Veranstaltung in München keine Angaben, verweisen aber erneut darauf, dass auf dem Flugplatz, der zu Grob Aircraft gehört, nun nicht dauernd Drohnen durch die Luft fliegen würden. Die Bevölkerung könne beruhigt sein.
Bekannt ist, dass Helsing und Grob Aircraft die Technologie „der nächsten Generation für den Luftkampf entwickeln wollen“. Die KI-Rüstungsspezialisten vom Ostbahnhof schätzen an dem Betrieb aus dem Unterallgäu vor allem, dass die dortigen Experten mit leichten und dennoch steifen Verbundwerkstoffen umgehen können. Das kunstflugtaugliche Trainingsflugzeug G 120TP von Grob Aircraft verkauft sich weltweit bestens. Kampfflugzeug-Piloten aus Deutschland, Kanada, Schweden, Frankreich, Großbritannien, Argentinien, Bangladesch, Ecuador, Äthiopien, Indonesien, Israel, Kenia, Mexiko und Jordanien schwören auf die Trainingsflieger. Grob Aircraft bietet neben den Flugzeugen ausgefeilte Trainingsprogramme sowie selbst entwickelte und gebaute Flugsimulatoren.

Helsing und Grob Aircraft haben in der Vergangenheit bereits zusammengearbeitet. Die Trainingsflugzeuge dienten als Entwicklungsplattform für eine von den Münchnern entworfene KI-gestützte Softwarelösung für die elektronische Kampfführung. Das Rüstungs-Start-up verspricht: „So lassen sich Bedrohungsszenarien in Echtzeit bewerten.“ Helsing-Co-Chef Scherf sieht auch eine wirtschaftspolitische Dimension des Kaufs von Grob Aircraft: „Wir bringen Bayern als europäischen Knotenpunkt für Innovation in der Verteidigung weiter voran.“ Das Bundesverteidigungsministerium hatte 2023 Helsing mit dem schwedischen Partner Saab auserkoren, das Kampfflugzeug Eurofighter bis 2028 für den elektronischen Kampf zu befähigen. Das Münchner Unternehmen ist dabei wiederum mit Software, die sich künstlicher Intelligenz bedient, im Spiel. Die Helsing-Spezialisten verraten immerhin, dass Radardaten analysiert „und innerhalb von Millisekunden präzise Selbstschutzmaßnahmen ermittelt werden“. Dank der Arbeit der Firma und der Unterstützung von Grob Aircraft sind Piloten in Kampfflugzeugen demnach besser geschützt.

Die Helsing-Forscher machen sich nicht nur Gedanken darüber, wie Demokratien zu Land und in der Luft besser gesichert werden können. Sie haben auch ein unbemanntes Gefährt, einen 1,95 Meter langen Gleiter, konstruiert, der wie ein Mini-U-Boot aussieht. Unter Wasser kann der ruhige Taucher KI Bedrohungen aufklären und sensible Bereiche schützen. Das 60 Kilo schwere Gerät lässt sich bis zu drei Monate unter Wasser betreiben. Die Unterwasser-Drohnen sollen im britischen Plymouth noch in diesem Jahr produziert werden, wie die Regierung des Landes mitteilt.
Die neuen Rüstungs-Manager kleiden sich leger
In Europa entstehen neue Rüstungsbetriebe, weil Putin in der Ukraine Krieg führt und EU-Länder bedroht. Das lässt exzellent ausgebildete Menschen für die Branche arbeiten, die sich anders kleiden als Manager der Verteidigungsbranche vor noch zehn Jahren. In München in den Rüstungslaboren hinter dem Ostbahnhof sind Anzüge und Krawatten out. Beschäftigte, die Freiheit und Demokratie gegenüber Machthabern wie Putin schützen wollen, sehen bei Helsing aus wie der CTO, der oberste Technik-Chef, Robert Fink, oder der COO, also der für das operative Geschäft zuständige Sam Rogerson: Fink hat die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und einst Zivildienst geleistet. Der in England lebende Rogerson, ein imposanter Mann mit Bart, trägt kurze Hosen und weiße Turnschuhe ohne Socken. Einer seiner Unterschenkel ist großflächig tätowiert. Er könnte Drummer einer Rockband oder DJ sein, wie sie früher im Kunstpark Ost auftraten.
Typen wie die beiden Manager gingen in den 80er-Jahren auf Friedens-Demonstrationen und hätten niemals für eine Rüstungsfirma gearbeitet. Heute wollen sie mit neuen Technologien den Frieden schützen. Das bewirkt die Zeitenwende. Putin motiviert kluge Technik-Köpfe im Westen, ihre Demokratien zu schützen. Gäbe es entsprechende Regierungsprogramme dafür, könnten sie „Nerds für die Freiheit“ heißen.
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