Wer hätte auch nur in seinen kühnsten Träumen vor 20 oder 30 Jahren so etwa für möglich gehalten? Die Musikkapelle Sulzberg intoniert den bayerischen Defiliermarsch und von viel Applaus begleitet, ziehen Grünen-Chef Robert Habeck, der Oberallgäuer Abgeordnete und Landtags-Vizepräsident Thomas Gehring samt anderen regionalen Grünen-Politikern ins Festzelt ein. Die Besucher klatschen, stehen auf. Gut und gerne 1.600 sind es an diesem Aschermittwochabend, sagen Veranstalter und Feuerwehr.
Die beiden Grünen- Kandidaten für das Oberallgäuer Landratsamt und für das Rathaus in Kempten, Christine Mader und Lajos Fischer, werden von Grünen-Kreisrätin Ulrike Hitzler interviewt. Es ist Kommunalwahlkampf und der Polit-Besuch aus dem hohen Norden soll mit seinen unbestrittenen Sympathie-Werten für Rückenwind der Allgäuer Kandidaten sorgen.
Landtags-Vizepräsident Thomas Gehring nimmt die Zuhörer mit auf einen Ritt durch die Kommunal-und Landespolitik: In Allgäuerisch, mit Witz und Humor. Doch die meisten sind heute wegen Robert Habeck gekommen. Der wird als „Ehrengast aus dem hohen Norden der Republik“ begrüßt.
Da steht er nun auf der Bühne – in Jeans und schwarzem Pulli. Der Doktor der Philosphie, der Schriftsteller, der frühere Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein. Der erst einmal erklärt, warum er so gerne in Bayern und im Allgäu ist: Weil er bei den Menschen im Freistaat die „Verbundenheit von Heimat und Offenheit“ erlebt.

Er spricht von Tradition und Vielfalt, von Austausch und Debatte, die auch in einem Bierzelt stattfinden könnten. Aber dabei will der 50-Jährige nach eigenen Worten vor allem eines: Einen fairen Umgang mit Andersdenkenden. Ungewohnte Worte in einem Festzelt am politischen Aschermittwoch: „Grölen und lautes Kläffen ist nicht ein Zeichen der Stärke.“ Und wieder viel Applaus.
Der Politiker entwickelt seine Gedanken ohne ein Konzept in der Hand. Es sind leise Töne wie diese, die begeistern: „Je mehr man gehört werden will, desto mehr muss man zuhören.“ Eindringlich wendet er sich gegen Rechtsextremismus und -populismus: Die demokratische Zivilgesellschaft müsse mit Gegenwehr antworten. Und es sei Pflicht aller Demokraten, zu zeigen, „dass wir uns nicht teilen lassen.“
Habeck hat durchgreifende „strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft“ ausgemacht, auch im politischen Koordinatensystem. CDU und SPD seien derzeit mehr mit sich selbst beschäftigt und hätten ihre Funktion als „rahmengebende Kraft“ weitgehend eingebüßt. Sie könnten dieses Land nicht mehr stabil halten. Allein die Grünen seien jetzt die „Gestaltungswilligen“.
Es ist kalt an diesem Abend im Festzelt, das vom Fasching übrig geblieben ist. Trotzdem hören die Besucher gespannt zu, unterbrechen die Rede immer wieder mit viel Applaus. Die Mehrheit der Gäste steht wohl eher in der zweiten Hälfte des Lebens. Vor allem bei jungen Leuten erlebe er „zunehmend ein erodierendes Vertrauen in die Demokratie“, bedauert denn auch der Grünen-Chef.
"Wir müssen die Entwertung der Lebensmittel stoppen"
Verständnis zeigt Habeck für die Sorgen der Landwirte. Die forderten zu recht faire Preise: „Wir müssen die Entwertung von Lebensmitteln stoppen.“ Natürlich ist die Energiepolitik an diesem Abend auch ein Thema – und der Klimaschutz. Habeck wendet sich dagenen, Ökonomie und Ökologie gegeneinander auszuspielen. Seine Formel lautet: „Die beste Chance der Ökonomie ist es, ökologisch zu werden.“ „Habeck for Kanzler“, ruft ein älterer Mann, als der Schlussapplaus ertönt. Der duckt sich verschämt und sagt: „Das habe ich jetzt Gott sei Dank nicht gehört.“
Wer hätte das vor 20, 30 Jahren für möglich gehalten?