Theo Waigel wartet schon mit seinem E-Bike. Für den eher geländeuntauglichen Journalisten hat er auch eins organisiert. Dann geht es den Berg hinauf. Das Ziel: die Alpe Beichelstein im Ostallgäu. Dort hat der 86-Jährige einst versehentlich seinen Rücktritt angekündigt. Aber dazu später. Ganz oben hat man einen unglaublichen Blick, bis hinüber nach Neuschwanstein. Doch es braucht nicht gleich ein Königsschloss, um Waigels Aufmerksamkeit zu wecken. Unterwegs hält er kurz an. Kuhglocken läuten, es riecht nach frisch gemähtem Gras – der Klang und der Duft seiner Kindheit. In den Bergen kommt für den einstigen CSU-Chef alles zusammen, seine Wurzeln als Bauernbub, aber auch Erinnerungen an politische Begegnungen. Der ideale Ort also, um ihm die Frage zu stellen, wie es auch mit Deutschland wieder bergauf gehen könnte.
Herr Waigel, was ist es, das Sie auch mit 86 Jahren noch hinaufzieht in die Berge?
THEO WAIGEL: Der Blick in die Ferne, die Ruhe, die Natur, das Gefühl von Heimat. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, habe Kühe gehütet, bin mit den Ministranten zum Wandern in die Berge gefahren. Hier oben erweitert sich der Horizont. Das gilt übrigens auch für die Politik.
Sie haben diese Kulisse auch gerne für politische Gespräche genutzt?
WAIGEL: Ja, ich war zum Beispiel mit den Bundespräsidenten Horst Köhler und Joachim Gauck hier unterwegs. Und gleich da drüben, auf der Burg Falkenstein, haben wir ein Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 eine Art Klassentreffen mit dem alten Kabinett von Helmut Kohl veranstaltet. Das sind ganz andere, viel intensivere Begegnungen als im hektischen Alltag. Ich erinnere mich besonders an ein Erlebnis mit Norbert Blüm...
... dem langjährigen Arbeits- und Sozialminister unter Helmut Kohl.
WAIGEL: Politisch hatten wir durchaus Differenzen, weil ich als Finanzminister aufs Geld schauen musste und er – zuständig fürs Soziale – für Sparmaßnahmen und Reformen, die aus meiner Sicht notwendig waren, wenig Verständnis zeigte. Jahrzehnte später, kurz bevor er starb, haben wir uns noch einmal geschrieben. Und das, woran er sich glücklich erinnerte, waren nicht irgendwelche politischen Großtaten, sondern diese gemeinsamen Stunden auf der Burg Falkenstein.
Heute dreht sich das Leben viel schneller, man kann sich jederzeit per Videokonferenz unterhalten. Fluch oder Segen?
WAIGEL: In all den Jahren in der Politik habe ich gelernt, dass die persönliche Begegnung durch nichts zu ersetzen ist. Natürlich kann man sich heute Zeit, Geld und Mühen sparen. Aber Vertrauen entsteht nur, wenn man sich gegenübersitzt. Das war übrigens die große Stärke von Helmut Kohl, dass er die großen Staatsmänner in den Dom von Speyer eingeladen, ihnen von seiner Familie erzählt hat und auch deren Lebensgeschichten erfahren wollte. Ich bin überzeugt davon, dass diese persönlichen Beziehungen ein Schlüssel dafür waren, dass Männer wie Gorbatschow, Mitterrand oder Bush senior ihm vertraut und dadurch die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht haben.

Ihre Heimat ist Bayern. Sie haben als CSU-Chef sogar ihre Sommerinterviews gerne auf den Berg verlegt.
WAIGEL: Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Das ist einmal richtig schiefgegangen.
Das müssen Sie uns erzählen...
WAIGEL: Hier auf dieser Alpe, auf der wir jetzt so gemütlich plaudern, ist mir einer der größten Fehler meiner politischen Laufbahn passiert. Vor der Sommerpause 1997 fragt mich ein Fernsehreporter: „Herr Waigel, jetzt machen Sie diesen Job als Bundesfinanzminister schon acht Jahre. Viel länger hält man das doch kaum aus, oder?“ Und ich falle auf diese Bemerkung herein, verliere für einen Augenblick meine politische Beherrschung und antworte wahrheitsgemäß: „Da haben Sie recht. Länger als neun oder zehn Jahre kann man das nicht machen. Dann hat man seine Pflicht fürs Vaterland getan.“
Und was geschah dann?
WAIGEL: Erst einmal gar nichts. Aber ein paar Wochen später, ich war inzwischen im Urlaub auf Usedom, zieht ein anderer Journalist dieses Zitat heraus und macht eine Riesengeschichte daraus: „Waigel kündigt Rücktritt an!“ Es begann ein Höllentheater, Fernsehkameras von morgens bis abends vor meinem Hotel. Erst als ich –der Wahrheit zuwider, muss ich heute zugeben – erklärte, es gäbe doch nichts Schöneres, als noch einmal vier Jahre Bundesfinanzminister zu sein, kehrte endlich einigermaßen Ruhe ein.
In der Politik wird Vieles heute als „Gipfel“ inszeniert, selbst wenn weit und breit kein Berg in der Nähe ist...
WAIGEL: ... was natürlich Hochstapelei ist. Ein echter Gipfel sollte schon auf der Höhe von mindestens 1000 Metern stattfinden. Im Ernst: Das Wort steht eben als Symbol dafür, dass etwas auf einen Höhepunkt zusteuert. Aber vergessen Sie nicht: Es gibt auch einen Gipfel der Unverschämtheit oder einen Gipfel der Geschmacklosigkeit.
Wenn man dann oben ist, wird die Luft dünner. Das spüren auch Union und SPD gerade. Sind Sie überrascht, dass es nach so kurzer Zeit schon knirscht?
WAIGEL: Die Erwartungen an Bundeskanzler Friedrich Merz und sein Kabinett sind extrem hoch und damit auch der Druck. Ich denke, es wäre klug gewesen, nur die wichtigsten gemeinsamen Ziele auszuformulieren, anstatt zu versuchen, auf mehr als 140 Seiten Koalitionsvertrag gleich alles zu regeln, obwohl doch klar ist, wie schnell sich die politische Lage verändern kann.
Den ersten Krach hat die Koalition mit der gescheiterten Wahl einer Verfassungsrichterin schon hinter sich. Was lässt sich daraus lernen?
WAIGEL: Beide Seiten müssen ein Gefühl dafür entwickeln, was sie dem Partner zumuten können und was eben nicht geht. Vielleicht sollte Friedrich Merz zusammen mit den Spitzen der SPD einfach mal in die Berge fahren. Der Kanzler hat ja ein Häuschen am Tegernsee. Aus solchen eher privaten Begegnungen entsteht auch ein Verständnis für das Denken, für das politische Kalkül des anderen – sei es nun ein politischer Partner oder ein Gegner.
Und damit sind wir bei der Frage: Wie geht es mit Deutschland wieder bergauf?
WAIGEL: Es gibt aus meiner Sicht drei entscheidende Hebel. Der erste und vielleicht wichtigste: Wir müssen neues Vertrauen in die Demokratie aufbauen. Dazu gehört es, zu Fehlern zu stehen. Dazu gehört die Ehrlichkeit, klarzumachen, dass es nicht immer nur bergauf gehen kann. Dass wir uns alle anstrengen, dass wir länger arbeiten müssen. Dazu gehört es, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Menschen so frustriert. Mit ihnen zu diskutieren, gerade mit jenen, die sich abwenden, gerade mit den Jungen. Und: Wir alle müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir die Demokratie mit aller Kraft verteidigen müssen, weil sie auch an ihrer eigenen Freiheit zugrunde gehen kann, wie es der Theologe Joseph Bernhart einmal formuliert hat.
Viele Menschen haben weniger Angst um die Demokratie als um ihre eigene Zukunft.
WAIGEL: Das führt zum zweiten Punkt. Wir müssen dem Wachstum der Wirtschaft wieder eine andere, eine höhere Priorität geben. Das bedeutet, bei Steuern, Bürokratie oder Regulierung wirtschaftsfreundliche Entscheidungen zu treffen und damit die Stärken, die der Standort Deutschland noch immer hat, zu entfesseln.
Für den Kanzler bedeutet das offenbar auch, den Klimaschutz zugunsten der Wirtschaft erst einmal hintanzustellen. Liegt Merz da richtig?
WAIGEL: Klimaschutz muss Priorität bleiben. Merz hat Recht, wenn er sagt, dass wir allein den Klimawandel nicht aufhalten können. Aber wir müssen weiter ein Vorbild sein. Hier erwarte ich mir nicht nur Impulse aus der Politik, sondern auch aus Wissenschaft und Technologie.
Sie hatten noch einen dritten Punkt, auf den es jetzt für Deutschland ankommt.
WAIGEL: Die Bürgerinnen und Bürger müssen wieder das Gefühl bekommen, dass der Staat funktioniert, dass Politiker Probleme in den Griff kriegen. Und das entscheidet sich vor allem damit, wie Deutschland die Migration steuert und in Grenzen hält. Wir müssen der AfD dieses Thema für deren Propaganda wegnehmen. Ich finde es richtig, dass Innenminister Alexander Dobrindt hier alle Spielräume auslotet. Klar ist aber auch: Eine dauerhaft stabile Lösung wird es nur mit unseren Nachbarn geben. Nur gemeinsam ist Europa stark. Die Schweizer haben doch gerade im Zollstreit mit den USA gesehen, was passiert, wenn man glaubt, als Einzelkämpfer bestehen zu können. Mit der Europäischen Union kann Donald Trump nicht so dreist umspringen.
Die Bundesregierung antwortet auf all die Herausforderungen mit gigantischen neuen Schulden, die man heute Sondervermögen nennt. Stehen Ihnen als Ex-Finanzminister da die Haare zu Berge?
WAIGEL: Wenn man die Mittel investiert, um das Land voranzubringen, halte ich das für vertretbar. Allerdings fehlt mir bisher der Ehrgeiz, nicht nur Geld auszugeben, sondern auch zu sparen, Prioritäten zu setzen – oder neue Einnahmen zu generieren.
Welche Einnahmen könnten das sein?
WAIGEL: Das Sondervermögen ist ja unter anderem für die Infrastruktur gedacht. Dabei wäre hier auch eine teilweise Refinanzierung denkbar. Nehmen wir mal an, die früheren Verkehrsminister hätten die Autobahnmaut nicht als Strafzahlung für Wohnwagen aus den Niederlanden konzipiert, sondern als Infrastrukturabgabe für alle. Man hätte die Bürger sicher davon überzeugen können, dass dieses Geld gebraucht wird, um Straßen und Brücken instand zu halten. Die politische Botschaft muss sein: Ja, wir muten euch etwas zu, aber nicht, um euch zu ärgern, sondern um die Zukunft für Eure Kinder und Enkel zu sichern.
Eine Frage der Kommunikation also. Ist ausgerechnet Merz der Richtige für diese erklärungsbedürftigen Zeiten?
WAIGEL: Die Statur dazu hat er. Er hat inzwischen ja auch erkannt, wie wichtig soziale Netzwerke sind, um Menschen zu erreichen. Ich kann das nicht beurteilen, finde aber, wir dürfen dieses Feld nicht Influencern oder AfD-Krakeelern überlassen.
Markus Söder bespielt es wie kein anderer, muss sich dafür aber immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, es fehle ihm an politischer Ernsthaftigkeit. Ein Dilemma?
WAIGEL: Er ist jedenfalls sehr erfolgreich damit. Davor habe ich Respekt. Und er weiß schon auch, dass es nicht reicht, den Menschen nur zu sagen, was man isst, sondern auch, wie man regiert.

Seine Reichweite scheint Söder jedenfalls Recht zu geben.
WAIGEL: Er hat mal erzählt, dass er jetzt mehr als 500.000 Follower hat. Darauf habe ich geantwortet: „Jesus Christus hatte nur zwölf und von denen konnte er sich nur auf elf wirklich verlassen. Trotzdem hat er es zur Weltgeltung gebracht.“ Da musste auch Söder schmunzeln.
Herr Waigel, hier oben in den Bergen sind Sie ohne Politikeruniform, sprich Anzug und Krawatte, unterwegs. Werden Sie trotzdem noch manchmal erkannt?
WAIGEL: Ich war einmal in Südtirol beim Wandern. Da kommt mir ein Spaziergänger entgegen und sagt: „Sie sehen ja aus wie der Theo Waigel.“ Ich habe geantwortet: „Das passiert mir immer wieder, dass ich mit dem verwechselt werde, dabei will ich mit dem Kerl nichts zu tun haben.“ Worauf der Mann nur meinte: „Kann ich gut verstehen.“ Das war dann doch ein Tiefschlag, den ich erst einmal verkraften musste. (lacht)
Zur Person: Theo Waigel war von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister unter Kanzler Helmut Kohl. In dieser Zeit legte der langjährige CSU-Vorsitzende den Grundstein für die gemeinsame europäische Währung und wird deshalb auch „Mister Euro“ genannt. Waigel stammt aus einer mittelschwäbischen Bauernfamilie. Gemeinsam mit seiner Frau Irene Epple-Waigel lebt der 86-Jährige heute in deren Heimatort Seeg in den Allgäuer Bergen.
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