Es wird ruhig. Das ist selten genug im Hause Pfleiderer. Die Feiertage gehören zu den wenigen Tagen im Jahr, die Matthias Pfleiderer in seiner Heimat verbringt. „Wenn ich zuhause bin, gehört diese Zeit nur der Familie und Freunden“, sagt Pfleiderer. Nicht mehr als 20 Tage verbringt der 26-jährige Trampolinturner jährlich im Oberallgäu. Heute empfängt er uns in seinem Elternhaus in Untermaiselstein. Sein Kinderzimmer ist von Pokalen dekoriert, von dutzenden Medaillen geschmückt und mit etlichen Urkunden tapeziert. „Es ist schön, wenn Matthias da ist. Es kommt nicht allzu oft vor“, sagt Mutter Sonja Pfleiderer, als sie uns zum Interviewtermin die Tür zum Kinderzimmer öffnet. „Wir freuen uns, wenn wir ein paar Tage Ruhe haben. Das hat Matthias während des Jahres kaum.“
Das verdankt er dem Erfolg. Denn Matthias Pfleiderer hat das turbulenteste Jahr seiner Laufbahn hinter sich. Dabei war die Silbermedaille bei der WM in Baku im November (Synchron) zweifellos die Sternstunde in der Karriere des Akrobaten. Damit wir Pfleiderers Achterbahnfahrt nachempfinden können, lässt uns der Ausnahme-Athlet an diesem Tag in seinem Kinderzimmer in seine außergewöhnliche Geschichte eintauchen.
Pfleiderer war schon als Kind ein Multi-Talent
Vielseitigkeit zeichnete Pfleiderer als Kind aus: Skifahren, Fußball, Tennis, Turnen – „ich habe alles gemacht, weil mich meine Eltern überall reingesteckt haben“ erzählt der 26-Jährige. „Aber sie haben mir immer alles offengelassen.“ Dass es letztlich der Trampolinsport wurde, überrascht angesichts der Geschichte der Eltern nicht. Mutter Sonja war ebenso aktiv wie Vater Ernst (auch Ski-Freestyler): Beide waren über drei Jahrzehnte beim TV Immenstadt tätig und gründeten die Trampolin-Abteilung. „Matthias war immer ein starker Allrounder und gut in allem, was er angepackt hat“, sagt Sonja Pfleiderer. „Als wir in den Urlaub gefahren sind, hat er mal den ganzen Tag geweint, weil der Tennisschläger im Kofferraum und nicht bei ihm hinten war. Er war immer total sportverrückt.“ Doch die Paradedisziplin kristallisierte sich alsbald heraus.
Mit 13 Jahren wurde Pfleiderer sensationeller Synchron-Vierter bei der Junioren-WM und 20. im Einzel. „Mir war schon als Kind klar, dass ich Profisport machen will“, erzählt Pfleiderer. „Für meine Eltern war die Hauptsache, es erfüllt mich.“ Doch um die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen, musste Pfleiderer den nächsten Schritt wagen. „Der Rest der Welt trainiert viel und ich wusste, dass ich das Allgäu verlassen muss, wenn ich das Training intensivieren möchte“, erzählt Pfleiderer. Das Talent wollte sich verbessern, sich emanzipieren, Neues erleben. Im Alter von 15 ging es ans Internat nach München, wo er in vier harten Jahren „Durchhaltehaltevermögen, Eigenständigkeit und Aushalten“ gelernt hat.
Trampolinturner Matthias Pfleiderer: Immenses Pensum ab 2014
Der Rettenberger begann eine Ausbildung zum Industriemechaniker, arbeitete zusätzlich zum Training 35 Stunden wöchentlich. Nach dieser „wahnsinnig intensiven und aufreibenden Zeit“ ging es nach Stuttgart zum MTV, Pfleiderer zog nach Esslingen – nur eine Woche nach Ende der Ausbildung in München. Weiter Schlag auf Schlag, sportlich und beruflich. Der Oberallgäuer begann seinen „Maschinenbautechniker“, arbeitete 20 Stunden, jeweils zwischen Morgen- und Abendtraining. Dieses Pensum – das weiß er heute – war immens. Und es sollte sich rächen.

Sportlich lief es allerdings wie am Schnürchen. Pfleiderer hatte in Stuttgart ein professionalisiertes Umfeld mit Krafttraining und Physiotherapie, physiologischer und psychologischer Betreuung, Ergometer und einem Ernährungsberater. Im Sommer 2017 war er Profi und Sportsoldat. Die Karriere, inzwischen hochdekoriert: Matthias Pfleiderer wurde mehrfacher deutscher Juniorenmeister, Team-Vize-Europameister, gewann U21-Bronze bei der WM 2013 im Einzel, wurde zweifacher Jugendweltmeister, deutscher Einzelmeister 2018, erreichte bei drei Weltmeisterschaften das Halbfinale und gewann wie erwähnt 2021 WM-Silber. „Mir war immer klar, dass ich mich nicht auf dem Sport ausruhe“, sagt Matthias Pfleiderer. Mit seinem praxisbezogenen Maschinenbautechniker (im vergangenen Juli abgeschlossen) legte er dafür den Grundstein – zahlte aber für seinen jahrelangen wilden Ritt einen teuren Preis.
Matthias Pfleiderer: 2020 war der Akku leer
2020 war der Akku leer. Mit dem Aufflackern der Pandemie erlosch nach und nach Pfleiderers Motivation. „Wettkämpfe sind ausgefallen, Olympia wurde verschoben, ich hatte ein massives Motivationsloch“, gesteht Pfleiderer. „Ich wollte alles hinschmeißen.“ Der Modellathlet ließ sich gehen, nahm sieben Kilo zu, verschob den Fokus – weg vom Sport. „Ich habe mir großen Druck gemacht, die Technikerschule zu beenden. Da hat es nicht reingepasst, 30 Stunden die Woche zu trainieren – noch dazu ohne Aussicht auf Wettkämpfe“, sagt Pfleiderer. Er zog die Reißleine.
Ein halbes Jahr Guatemala und Mexiko haben die Wende herbeigeführt. „Ich habe fast sieben Jahre ohne Pause, ohne Urlaub durchgeballert, da musste ich die Entscheidung treffen, mich einmal rauszunehmen“, sagt Pfleiderer. „Es war ein Muss, auszubrechen und nichts vom Sport zu hören. Hätte ich das nicht gemacht, wäre ich nie wieder auf ein Trampolin gestiegen.“ Doch das ist er glücklicherweise.
„Wir sind unheimlich stolz auf seinen Weg. Die sportliche Gabe war früh erkennbar“, sagt die Mama. „Aber es freut uns, ihn so zu sehen, weil er sich durch etliche Tiefs kämpfen musste. Er hat alles selbstständig hinbekommen.“ Und seine Reise soll noch nicht enden.
Pfleiderer: "2024 wird Schluss sein"
2022 will der deutsche Vorzeige-Turner in Spanien verbringen – in der Trainingsgruppe in Madrid soll der Feinschliff für den großen Traum erfolgen: „Olympia 2024 in Paris ist alles, was mir bleibt. Sonst habe ich fast alles erreicht, was ich mir erträumt hätte“, sagt Pfleiderer. „Danach wird vermutlich Schluss sein.“ Bis dahin arbeitet der 26-Jährige weiter voller Akribie, selbstkritisch und gewissenhaft – außer an Weihnachten. „In all den schwierigen Phasen habe ich immer die Familie hinter mir gehabt – sie steht über allem“, sagt Matthias Pfleiderer. „Und ich habe meinem Bruder versprochen, dass wir noch eine Saison gemeinsam für den FC Rettenberg kicken, egal wann.“ Danach sollte es endgültig ruhig werden um Matthias Pfleiderer. Vielleicht.