Voll war er nicht, der Stadtsaal in Kaufbeuren. Aber die, die sich den endlosen und komplexen Häutungen der Geschichte rund um den krankhaft übergewichtigen Online-Literatur-Dozenten Charlie im Theaterstück „Der Wal“ aussetzten, gingen tief berührt und sehr nachdenklich nach Hause. Auf Einladung des Kulturring gastierte die Tourneebühne Euro-Studio Landgraf mit einem exzellenten Ensemble in Kaufbeuren.
Die Original-Vorlage „The Whale“ von Samuel D. Hunter wurde 2012 uraufgeführt und überzeugte schnell Kritiker und fachkundiges Publikum. 2022 folgte die Verfilmung des Stoffs unter der Regie von Darren Aronofsky, die mit zwei Oscars ausgezeichnet wurde. Die Hauptrolle übernahm damals Brendan Fraser. Das Euro-Studio Landgraf bringt das Werk unter der Regie von Stephan Hoffmann nun wieder als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne. Mit Torsten Münchow in der Hauptrolle ist auch der deutsche Synchronsprecher des Films mit von der Partie, der sich entsprechend intensiv mit der Figur des Charlie auseinandergesetzt hat.
Diese Rolle stellt außerordentliche Anforderungen an den Schauspieler: Zum einen gilt es, das sich ankündigende Sterben glaubwürdig zu verkörpern, und auch mit dem „Fatsuit“, dem Kostüm, das Münchow zu einer krankhaft adipösen Figur macht, zurechtzukommen. Zum anderen darf das Darstellen der Entwicklung der Gefühle, der Handlung und der teilweise dysfunktionalen Beziehungen der Figuren zueinander nicht ins Hintertreffen geraten.
Das gelingt dem Ensemble außerordentlich gut: Münchow erzeugt glaubwürdig Tragik, wenn er sich als – im mehrfachen Sinne – gestrandeter Wal buchstäblich zu Tode futtert. Vorher möchte er aber noch eine Beziehung zu seiner 17-jährigen Tochter Ellie aufbauen, die es ihm als rebellischer Teenager maximal schwer macht. Mit Daria Vivien Wolf hatte man dafür die Idealbesetzung gefunden. Bleibt noch die Krankenschwester Liz, die sich im Laufe des Stücks als Adoptivschwester von Charlies verstorbenem Lebenspartner Alan offenbart. Sie kümmert sich rührend, aber auch mit gnadenloser Ehrlichkeit und Pragmatismus um den sterbenden Ex ihres Bruders, der im Übrigen an Nahrungsverweigerung gestorben ist. Franziska Endres, die Liz im Film die deutsche Stimme gab, war auch hier im umfassenden Sinne am rechten Platz.
Dies gilt auch für Rajko Geith, der die Figur des Elder Thomas verkörpert und ebenfalls als Synchronsprecher an der Verfilmung beteiligt war. Der ist ein Gottsucher mit Helfer-Syndrom, der tragisch durch die Szenerie irrlichtert und zugleich die Dimension der Religion und die aktuelle Thematik des religiösen Fanatismus ins Spiel bringt. Charlys Ex-Frau Mary (glaubwürdig dargestellt von Iris Boss) bezeichnet ihr eigenes Kind als „böse“, während der Vater Charlie noch im Untergang das Gute im Menschen sehen will. Zudem wirft sie dem Sterbenden vor, sich trotz seiner homosexuellen Neigung nur mit ihr eingelassen zu haben, um ein Kind sein Eigen nennen zu können.
Alles in allem also im besten Sinne schwere Kost, sparsam gewürzt mit ein wenig Humor. Dafür prasseln aus allen Richtungen Fragen nach Schuld und Verantwortung auf das Publikum ein. Charlie, der sich stets reflexartig für alles Mögliche entschuldigt, entschließt sich am Ende zu schonungsloser Ehrlichkeit: Er schaltet die Computerkamera ein und offenbart den Online-Studenten seinen „ekelerregenden“ Körper. Ganz nebenbei bekommen der nicht nur in den USA grassierende Schönheits- und Selbstoptimierungswahn sowie Junk-Food-Orgien im XXXL-Format ihr Fett ab.
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