Warum trägt die Ausstellung den Titel „gesichtslos“?
CHRISTINA KÖSL: Über diesen Titel kann man viele verschiedene Assoziationen herstellen. Das ist das Spannende daran. Zum einen bedeutet gesichtslos, dass die Frauen von vielen Menschen gar nicht gesehen werden. Viele Frauen in der Prostitution sind nicht wirklich Teil der Gesellschaft, wir wissen nur wenig über sie und ihr Leben. Zum anderen sind die Gesichter der Frauen auf den Fotografien von Hyp Yerlikaya mit Masken bedeckt.
Aus Schutzgründen?
KÖSL: Die Frauen waren von Anfang an beteiligt in den Prozess und in die Gestaltung der Ausstellung. Sie waren damals in der Prostitution tätig oder sind es noch heute. Die Fotografien sind über zwei Jahre entstanden. Durch die Masken können sich die Frauen einerseits zeigen, ohne erkannt zu werden. Oft weiß nicht das gesamte Umfeld von der Prostitution und das ist für viele Frauen mit Scham behaftet.
NADJA WIRTH-LAGEMANN: Die Maske steht auch stellvertretend für die unsichtbaren Masken, welche die Frauen aufsetzen müssen aufgrund der extremen Arbeitsbedingungen. Auch da brauchen sie oft eine Maske, um zu überleben. Für die Frauen bedeutet das zum Beispiel, dass sie nicht ihr wahres Ich, sondern nur eine Form davon zeigen. Es ist die Maske, damit sie diese Arbeit tun können.
So geht es Frauen in Kemptener Bordellen
Die Ausstellung zeigt Fotos von Sexarbeiterinnen aus Mannheim. Sie erzählen auch ihre Geschichten über Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen. Inwiefern spiegelt das die Situation in Kempten wieder?
WIRTH-LAGEMANN: Kempten ist die einzige Stadt in der Region, in der es legale Prostitutionsstätten, also Bordelle, gibt. Die liegen außerhalb des Sperrbezirks und damit oft mitten im Zentrum. Trotzdem fallen sie vielen Stadtbewohnern nicht auf oder die Menschen schauen weg. Die Kunden kommen teils von weit her und die Lage der Frauen, die dort arbeiten, ist sehr unterschiedlich. In manchen gibt es eine Person, die vieles organisiert, zum Beispiel eine Hausdame. In anderen Bordellen mieten die Frauen selbst organisiert ein Zimmer oder jemand anders tut das für sie. Dann kümmern sie sich auch selbst um ihre Ausstattung vom Klopapier bis zu den Kondomen. Manchmal gibt es einen Rückzugsort, manchmal nicht. Ein Sicherheitsdienst fehlt oft. Wir haben bei unseren Besuchen in Kemptener Bordellen auch schon Frauen angetroffen, die nicht einmal wissen, wie die Stadt heißt, in der sie gerade sind. Andere kommen schon viele Jahre immer wieder hierher und haben Stammkunden.
KÖSL: Die Frauen befinden sich auch in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen. Viele von ihnen sind in der Prositution, weil sie finanziell keine andere Möglichkeit sehen, sie haben zum Beispiel Schulden oder wollen ihre Familie im Ausland versorgen. Oft gibt es eine Sprachbarriere. Vieles wissen wir auch nicht. Manche können sich zum Beispiel nicht einmal die Fahrt von Kempten nach Hause in ihren Heimatort selbst organisieren, dann fragen wir uns schon, wie selbst bestimmt die Tätigkeit in der Prostitution für diese Frauen ist.
Wie sehen solche Besuche von Ihnen im Bordell aus? Warum machen Sie das?
WIRTH-LAGEMANN: Wir wollen den Frauen zeigen, dass wir sie sehen. Dass wir sie als wertvolle Menschen sehen und dass wir für sie ansprechbar sind, wenn sie Hilfe brauchen sollten. Wir besuchen die Bordelle in Kempten regelmäßig und werden meistens hereingelassen. Wir haben kleine Geschenke dabei oder Infomaterial zu Anlaufstellen in der verschiedenen Sprachen. Manche Frauen weisen uns aber auch ab oder haben keine Zeit. Den Betrieb wollen wir nicht aufhalten, um von den Frauen nicht als Störfaktor wahrgenommen zu werden. Manchmal bleibt es bei solchen Besuchen nur bei einem freundlichen „Hallo“. Mit manchen hat sich auch eine Beziehung entwickelt. Manchmal führen wir längere Gespräche, das kommt zum Beispiel vor, wenn sich die Frauen etwas von der Seele reden wollen.
Bald ein Sexkaufverbot in Deutschland?
Was zum Beispiel?
WIRTH-LAGEMANN: Oft geht es um die Hoffnung und die Zukunft. Wir haben zum Beispiel einmal über längere Zeit eine Frau begleitet, die einen Job in der Pflege gesucht hat. Auch von persönlichen Wünschen erzählen manche, zum Beispiel davon, dass sie mit ihrem Partner eine Familie gründen wollen.
KÖSL: Mit der Ausstellung wollen wir dazu anstoßen, über die Frage zu diskutieren, wie wir als Gesellschaft zu Prostitution stehen, welche Verantwortung die Politik hat, einen wirklich sicheren Rahmen zu schaffen und wie dieser aussehen könnte. Da gibt es zum Beispiel das Nordische Modell (Anm. d. Red: dieses Modell gibt es unter anderem in Schweden, es beinhaltet dort ein Sexkaufverbot also die Kriminalisierung von Kunden.). Was Frauen in der Prostitution teils erleben und ertragen, übersteigt die Vorstellungskraft. Ihre Rechte und ihren Schutz wollen wir stärken.
Das ist der Verein Unbezahlbar in Kempten
- Christina Kösl (42) und Nadja Wirth-Lagemann (46) sind Mitglieder des Vereins „Unbezahlbar“, der zum Gebetshaus Allgäu gehört, und Präventionsarbeit sowie Streetwork im Bereich Menschenhandel und Prostitution betreibt. Der Verein arbeitet mit mehreren Beratungsstellen in Kempten sowie überregional zusammen.
- Kontakt und Informationen gibt es im Internet unter www.unbezahlbar.info
- Die Ausstellung „gesichtslos - Frauen in der Prostitution“ ist im Foyer des Stadttheaters Kempten zu sehen. Die Vernissage findet am Freitag, 4. April, um 18 Uhr statt.


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