Sie hatten 2002 ein Interview mit Leni Riefenstahl geführt, mit dem Sie nach eigenem Bekunden völlig unzufrieden waren, weil sie nicht „an sie rangekommen“ waren. Begleichen Sie mit dem Dokumentarfilm, für den Sie Riefenstahls Nachlass auswerteten, also eine offene Rechnung?
SANDRA MAISCHBERGER: Wenn ich eine offene Rechnung hatte, dann mit mir und nicht mit ihr. Wobei Rechnung nicht der richtige Ausdruck ist. Ich hatte so viele Fragen, auf die ich keine befriedigende Antwort bekam, und so hat mich das Thema weiter beschäftigt und ich habe es in weiteren Laufbahnen umkreist. Als ich erfuhr, dass ihr Ehemann gestorben war, habe ich mich dem Nachlass sozusagen an die Fersen geheftet, in der Hoffnung, Antworten auf offene Fragen zu erhalten.
Was war denn für Sie die entscheidende Frage?
MAISCHBERGER: Ich habe mich gefragt, ob sie eine Opportunistin war, die diese Filme gemacht hat, weil Ruhm und Geld damit verbunden waren, oder ob und wie sehr sie von der Ideologie überzeugt war. Inzwischen ist mir klar, dass Letzteres der Fall war. Es gibt zum Beispiel einen Brief, den sie in den 1950ern an einen Geliebten geschrieben hat. In der Zeit wollte ihr nichts mehr gelingen – keines ihrer Drehbücher oder Treatments wurde realisiert. Und in dem Brief meint sie, dass sie nicht mehr diese Energie und Schaffenskraft habe, weil ihre Ideale gemordet worden seien. Das ergäbe alles keinen Sinn mehr. Sie konnte also nur künstlerisch das abbilden, zu dem sie zu 150 Prozent stand.
Nun können heutige Generationen mit dem Namen Riefenstahl nicht mehr so viel anfangen. Was hat denen dieser Film zu sagen?
MAISCHBERGER: Sehr viel – wenn ich mir die Wahlergebnisse mancher Parteien gerade bei den jungen Leuten ansehe. Es ist in Vergessenheit geraten, wie schnell aus einer Ideologie, die das Fremde ablehnt etwas werden kann, das auf Ausgrenzung und Vernichtung eines Gegners zielt. „Riefenstahl“ ist also nicht nur ein Film über eine Person und eine Zeit, sondern hat sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun, aber hoffentlich nicht mit unserer Zukunft. Auch die Ästhetik Riefenstahls ist sehr präsent – vom Rammstein-Video über Sportübertragungen bis zur Maiparade in Moskau nach Beginn des Ukraine-Feldzugs. So lautet die Frage: Wenn die Ästhetik so präsent ist, ist vielleicht die Ideologie auch präsent? Insofern ist es wichtig, für die junge Generation diese Geschichte zu erzählen, die so viele Anknüpfungspunkte bietet – Fake News, Propaganda, das Nichtschuldseinwollen an dem, was passiert ist. Und als ich durch das Material des Nachlasses gegangen bin, habe ich gesehen, wie sehr sich Riefenstahl immer selbst in Szene gesetzt hat. Sie ist der absolute Prototyp einer Instagram-Personality.
Wie sind Sie selbst mit der Geschichte des Dritten Reiches vertraut geworden?
MAISCHBERGER: Ich komme aus Garching, also lag es nahe, dass wir im Unterricht das KZ Dachau besucht haben. Damals war ich vielleicht 12, und das Durchlaufen durch die Gedenkstätte hat mich zwar emotional berührt, aber nicht nachhaltig. Aber wenig später lief die Serie „Holocaust“ im Fernsehen, und plötzlich hat es mich erwischt, weil man sich mit lebenden Menschen identifizieren konnte, die ins KZ gesteckt wurden. Ich bin ein Fan des Mediums Film, und ich produziere sie auch deshalb, weil ich das Gefühl habe, über diesen Weg besser an den Gefühlskern der Menschen heranzukommen.
Wie hat Ihr Elternhaus Ihnen diese Zeit vermittelt?
MAISCHBERGER: Großväter und Onkel waren nicht mehr am Leben. Meine Mutter ist Jahrgang 40, sie hat also nicht viel erlebt, mein Vater mit Jahrgang 33 nur etwas mehr. Effektiv gab es keine Männer, die ich über den Krieg befragen konnte. Aber im Kreis der Großtanten oder auch im Freundeskreis meines Vaters gab es auch in den 70er, 80er Jahren noch Sympathie und eine gewisse Nähe zur Ideologie der Nazis.
Angesichts der aktuellen Wahlergebnisse fragt man sich, ob der Brecht-Satz stimmt, dass der Schoß, aus dem das kroch, noch fruchtbar ist.
MAISCHBERGER: Wenn es nur um die AfD ginge, wäre ich nicht so besorgt. Aber man muss sich nur in unseren europäischen Nachbarländern oder in den USA umschauen. Es ist zunehmend zu sehen, dass die Menschen in komplizierten Krisen eine Sehnsucht nach einfachen Antworten und autoritärer Führung haben, die das Leben in der Moderne scheinbar einfacher machen oder die Rückkehr zu einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit versprechen. Diese Strömungen hat es früher auch schon gegeben. Was mich bei der Arbeit an dem Film besonders bewegt hat, war die Konfrontation mit den Aufnahmen von Anrufen, die Leni Riefenstahl viele Jahre nach dem Krieg bekommen hat. Sie ist da auf einer Welle von Zustimmung geschwommen. Einen Anruf haben wir bewusst ans Ende des Films gesetzt hat. Da meinte ein Mann, man brauche nach solchen Kriegen eine Abklärungsphase, bis man nach zwei, drei Generationen wieder bei Moral und Anstand sei. Und Riefenstahl sagt darauf „Ja, und das deutsche Volk hat die Anlage dafür.“ Wir haben diese Aufnahme gehört in einer Zeit, wo nicht nur der imperialistische Krieg gegen die Ukraine ausgebrochen war, sondern auch die massiven Rechtsbewegungen in ganz Europa zu sehen waren.
Sie würden also Brecht zustimmen?
MAISCHBERGER: Es wäre falsch zu sagen, dass jetzt wieder die Zeit der Nazis kommt. Die Nazis waren eine singuläre Erscheinung, aber faschistisch-nationalsozialistisches Gedankengut, imperialistische Bestrebungen und die Abwertung anderer, das ist alles wieder da. Wir befinden uns in einer Phase, wo diese Ideen erfolgreich sein können. Dessen müssen wir uns sehr bewusst sein.
Ist es dann der richtige Ansatz, deren Vertretern eine Medienplattform zu bieten? Sie haben ja dieses Jahr den AfD-Fraktionsvorsitzenden Tino Chrupalla in Ihre Sendung eingeladen.
MAISCHBERGER: Ich bin eine Anhängerin von Debatten. Wenn man gegeneinander debattiert, muss man sich auch das Argument des anderen anhören und im Zweifelsfall versuchen, zu sehen, inwieweit der andere vielleicht recht hat. Das ist die Grundvoraussetzung jeder Debatte, und wir laden alle ein, die diese Regel beherzigen. Aber in der Redaktion versuchen wir genau zu analysieren: Wer hält sich an diese Regeln und wer bewegt sich auf dem Boden der demokratischen Grundordnung? Man darf auch nicht vergessen: Es gibt Menschen im Umfeld der AfD, die sagen, was dem Goebbels sein Volksempfänger war, das sind für uns die sozialen Medien. Das heißt, wenn wir uns nicht in unserer Sendung mit diesen Politikern auseinandersetzen, lassen wir zu, dass sie sich nur in ihren eigenen Blasen und Echokammern bewegen, wo es keinen Widerspruch gibt. Bei unseren Debatten gibt es immerhin den Widerspruch – und den Zwang, sich damit auseinanderzusetzen
Verlieren denn die traditionellen Talkshows ihre Funktion in der Welt der sozialen Medien?
MAISCHBERGER: Man kann viel an Talkshows kritisieren. Sie sind keine präzise Form. Viel hängt davon ab, wer mit wem redet. Aber sie sind ein Teil der öffentlichen Debatte, den ich verteidigen möchte. Bei unserer Sendung sind die Zuschauerzahlen noch nicht so krass gesunken. In der letzten Zeit sind sie eher gestiegen. Und wir haben neue Ausspielungswege wie die Mediathek, YouTube oder Instagram. Wir versuchen, das dahin zu tragen, wo sich die junge Zuschauerschaft findet. Und ich finde, dass wir das mehr denn je brauchen.
Sie haben die junge Zuschauerschaft auch zuhause sitzen – denn Sie haben einen fast 18-jährigen Sohn. Haben Sie versucht, auf dessen Medienkonsum einzuwirken oder sollte man sich als Elternteil da heraushalten?
MAISCHBERGER: Letzteres hielte ich für falsch. Man muss es eigentlich in jedem Alter angehen. Unser Sohn war in der Grundschule, die in Berlin bis zur sechsten Klasse geht, einer der letzten, der ein Smartphone hatte. Er wollte es dann zum Übertritt ins Gymnasium, um mit seiner alten Klasse in Verbindung zu bleiben. Man kann nicht negieren, dass heutzutage die Kommunikation zum großen Teil über diesen Weg läuft. Man kann es nicht verbieten oder aus dem Leben entfernen. Irgendwann muss man auch konstatieren, dass der Einfluss von Eltern in dem Maße schwindet, wie der Einfluss von Freundeskreisen zunimmt. Und das ist auch gut so. Bis dahin sollte man es geschafft haben, über die Bewertung von Inhalten in sozialen Medien zu reden. Wir hatten zuhause zum Beispiel Diskussionen über bestimmte Videos, die unser Sohn gesehen hat. Da haben wir Fragen gestellt wie: Was ist die Quelle? Gibt es eine zweite unabhängige Quelle, die das Gleiche sagt? Es war da ein verrückter Fall, wo angeblich ein Islamist Kinder in einem Riesenfleischwolf schreddert. Da reicht es zu sagen: „Denk einfach nach, klingt das für dich nach einer wahren Geschichte?“ Es gilt, die Kinder zu sensibilisieren, dass sie den eigenen Verstand gebrauchen und nicht jedem Impuls sofort folgen. Und dass sie sich nicht permanent aufregen lassen. Denn die Algorithmen spielen das ein, was einen schnell emotionalisiert. Wenn einem das als Eltern nicht früh gelingt, wird es später schwer.
Sie sind aber guter Dinge, was Ihren Sohn angeht?
MAISCHBERGER: Die Schule, auf die er geht, und sein Freundeskreis haben einen guten Umgang mit diesen Medien, finde ich. Sie wissen selbst, wo die Chancen und die Risiken liegen.
Manipulation der Zuschauer hat ja eben auch Leni Riefenstahl auf ihre Weise betrieben. Können Sie selbst sich dem Sog dieser ästhetisch perfekt gestalteten Bilder entziehen?
MAISCHBERGER: Beim „Triumph des Willens“ ja. Aber ich gebe zu, dass ich die Aufnahmen von „Olympia“ immer noch als unglaublich effektvoll und kraftvoll erlebe. Deshalb haben wir uns nach einer ausführlichen Diskussion entschieden, sie mit einer gewissen Länge im Film zu zeigen. Man kann nicht über Verführbarkeit und die Verführungskünste einer Manipulatorin sprechen, ohne dass man nicht einen Hauch davon spüren lässt, wie diese Bilder funktionieren. Anderseits kann ich sie nach der eingehenden Beschäftigung mit Leni Riefenstahls Denkweise nicht mehr unbelastet sehen. Diesen Unschuldsblick habe ich nicht.
Zur Person
Sandra Maischberger, 1966 in München geboren, gehört zu den bekanntesten Journalistinnen und Fernsehmoderatorinnen in Deutschland. Seit 2003 ist sie in der ARD mit einer eigenen Talkshow zu sehen. Als Produzentin hat sie nun an der Dokumentation „Riefenstahl“ mitgewirkt. Regisseur ist Andres Veiel. Die Doku kommt am 31. Oktober in die Kinos.
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