Noch ein paar Tage, das dürften sich wohl die Schülerinnen und Schüler an diesem Dienstagmorgen nach Pfingsten gedacht haben. Dann ist dieses Schuljahr zu Ende, praktisch ist es ja schon gelaufen: Für die Jüngeren unter ihnen steht die Noten-Konferenz der Lehrkräfte kurz bevor, die Tage danach sind die besten des Schuljahres. Ausflüge stehen auf dem Programm, ein wenig Durchatmen und Unbeschwertheit. Die Älteren stecken noch in den letzten Prüfungen für die Matura, wie in Österreich das Abitur an höheren Schulen heißt. Danach wird gefeiert, Pläne werden geschmiedet, ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Es ist ein warmer Sommertag. Doch was sich in den späten Vormittagsstunden am Bundesoberstufenrealgymnasium (BORG) Dreierschützengasse im Viertel Lend nahe dem Grazer Hauptbahnhof abspielt, wird das Leben der 14- bis 18-Jährigen jungen Menschen für immer verändern. Für mehrere von ihnen ist es der letzte Tag ihres Lebens.
Einige Minuten vor zehn Uhr vormittags betritt ein ehemaliger Schüler des BORG das Gebäude, er führt eine geladene Pistole und eine Schrotflinte mit sich. Der junge Mann, er ist 21 Jahre alt, geht in eines der Klassenzimmer und eröffnet das Feuer. Kurz darauf sucht er eine weitere Klasse auf, schießt auf Schüler und auf Lehrer. Dass es sich um nur einen Täter handelt, ist den Einsatzkräften des Sonderkommandos Cobra, die um Punkt zehn Uhr alarmiert werden, noch nicht klar. Die Spezialkräfte sind sofort vor Ort und stürmen die Schule, nur 17 Minuten später ist das Gebäude gesichert.
Hunderte Schülerinnen und Schüler werden aus dem Gebäude gebracht, auf Videos, die Boulevardmedien kurz darauf veröffentlichen, ist zu sehen, wie Jugendliche von schwerbewaffneten Polizisten durch die Gänge und Richtung Ausgang gelotst werden, schließlich über die Straße laufen, sich hinter Rettungswägen flüchten. Wenig später stehen Busse der Grazer Verkehrsbetriebe bereit und schirmen die Schüler ab, betreut werden die Jugendlichen von dutzenden Rettungs- und Krisenteams. Einige Straßen weiter befindet sich das Eggenberger Stadion, für die Eltern und Angehörigen der Schüler wird dort ein Notfallsammelzentrum eingerichtet, auch im Stadion warten dutzende Kriseninterventionsteams. Schließlich durchsuchen die Sondereinsatzkräfte das gesamte Schulgebäude nach möglichen Sprengsätzen. In einer Toilette finden sie schließlich den Täter. Er hat sich nach seiner Tat das Leben genommen.
Nach dem Amoklauf in Graz steht Österreich unter Schock
Das Land steht unter Schock. Noch am Nachmittag wehen im Wiener Regierungsviertel, auf der Hofburg und später bundesweit auf allen öffentlichen Gebäuden die Flaggen auf Halbmast, Bundespräsident Alexander Van der Bellen ruft eine dreitägige Staatstrauer aus. Was die Österreicher bisher nur aus den USA kennen, ist in Graz Realität geworden. Neun weitere Todesopfer, sechs weiblich, drei männlich, werden am Nachmittag aus dem Gebäude geborgen – eine davon ist dem Vernehmen nach eine Lehrkraft. Am Abend erliegt eine weitere Frau im Krankenhaus ihren Verletzungen, sie ist insgesamt das elfte Todesopfer.

Die Tragödie dürfte als bisher schlimmster Amoklauf in die Geschichte Österreichs eingehen. Im Mai 1997 erschoss ein 16-Jähriger in der niederösterreichischen Gemeinde Zöbern eine Lehrerin und verletzte eine zweite schwer. 2018 wurde ein 18-Jähriger nach einem geplanten Amoklauf wegen versuchten Mordes zu sechs Jahren Haft verurteilt. Er hatte vor einer Schule in Mistelbach nördlich von Wien einen 19-Jährigen mit einer Schrotflinte angeschossen und schwer verletzt. Die Stadt Graz wurde bereits zum zweiten Mal Schauplatz einer Tragödie dieser Art. Im Juni 2015 war ein Mann mit seinem Auto bei hoher Geschwindigkeit über den Bürgersteig und Fußgängerzonen gefahren. Drei Menschen wurden getötet und 36 verletzt.
Die Frage nach dem Warum: Nach dem Amoklauf sind noch viele Fragen offen
Viele Fragen bleiben nach der Tat am Dienstag offen. Was genau in diesen Minuten kurz vor zehn Uhr vormittags in den Gängen und den beiden Klassenzimmern passiert ist, ist am Nachmittag unklar. Er bitte die Öffentlichkeit, auch aus Rücksicht auf die Angehörigen der Opfer, um Geduld, sagt Österreichs ÖVP-Innenminister Gerhard Karner in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Nur so viel: Der Täter sei ein ehemaliger Schüler, der die Schule allerdings nicht beendet hatte, die Waffen, mit denen er die Tat begangen habe, habe der junge Mann ganz legal besessen. In den Medien kursieren Spekulationen: Die Waffen habe der Täter erst vor wenigen Tagen gekauft – er habe sich als Mobbingopfer gefühlt. Es sei heute nicht die Zeit, Politik zu machen, heute sei ein Tag der Trauer, darüber sind sich am Dienstagnachmittag Politiker aller österreichischen Parteien mit der Regierungsspitze einig.

In Deutschland weckt die Tat von Graz schmerzhafte Erinnerungen. An zwei ähnliche Fälle an deutschen Schulen, ähnlich ausgeführt, ähnlich grausam, ähnlich tragisch. In zwei Städten, deren Namen unweigerlich, schier unerbittlich mithallen, wenn man die Bilder aus Graz sieht: Erfurt und Winnenden.
Wie sind Schulen in Deutschland vor Gewalt geschützt?
Rückblick auf zwei Tragödien also: Es ist der 26. April 2002, der Tag der letzten schriftlichen Abiturprüfung in Thüringen, ein warmer Frühlingstag, so beschreiben es später viele. An diesem Tag erschießt der damals 19 Jahre alte Robert Steinhäuser - wie im Fall Graz ein ehemaliger Schüler - am Erfurter Gutenberg-Gymnasium elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizisten und schließlich sich selbst. Der Amoklauf dauert nicht einmal 20 Minuten, Steinhäuser trägt dabei eine schwarze Sturmmaske, er hat zwei Waffen bei sich und 500 Schuss Munition. Das wohl wahrscheinlichste Motiv für den Amoklauf: ein aus Sicht des Täters ungerechtfertigter Schulverweis. Und: Steinhäuser ist damals Mitglied im Schützenverein.

Nach der Tat wird das Waffenrecht in Deutschland deutlich verschärft. Seitdem müssen junge Erwachsene unter 25 Jahren etwa ein ärztliches Zeugnis über die „geistige Eignung“ vorlegen, wenn sie eine Schusswaffe kaufen wollen. Es ist der Versuch, aufzuhalten, was oft nicht aufzuhalten ist. Weil die Täter es doch immer irgendwie schaffen, an Waffen zu gelangen.
So wie sieben Jahre später. Am 11. März 2009 ereignet sich der Amoklauf in der Albertville-Realschule in Winnenden, etwa 20 Kilometer von Stuttgart entfernt. Der damals 17-jährige Tim Kretschmer schießt in zwei Klassenzimmern und einem Chemiesaal mit einer Pistole des Typs Beretta 92 aus dem Besitz seines Vaters auf Schüler und Lehrkräfte. Auf der Flucht vor der Polizei schießt Kretschmer auf weitere Menschen, am Ende jagt er sich selbst eine Kugel in den Kopf. 16 Menschen verlieren an diesem Tag ihr Leben. Wie schon nach dem Amoklauf in Erfurt wird das Waffenrecht nach der Tragödie von Winnenden weiter verschärft.
Die Sensibilität für Bedrohungen ist über die Jahre stetig gestiegen
Auch an den Schulen gibt es Vorkehrungen. Über die Jahre ist die Sensibilität für Bedrohungslagen stetig gestiegen. In Bayern etwa ist heute jede Schule verpflichtet, ein Sicherheitskonzept für den Ernstfall zu besitzen. Die Schulleitung entwickelt und aktualisiert es zusammen mit dem Träger und der Polizei. Das Kultusministerium fragt die Existenz eines solchen Notfallplans regelmäßig ab. Alle staatlichen Schulen in Bayern können im laufenden Schuljahr ein aktuelles Konzept vorweisen, betont eine Ministeriumssprecherin. Offenbar fühlen die Schulvertreter sich damit gut vorbereitet, denn bei der jüngsten Überprüfung seien „keine Fragen an die Schulaufsicht herangetragen“ worden.
Das Notfall-Papier enthält – das erfährt man auf Nachfrage bei den Polizeipräsidien – konkrete Angaben dazu, wie Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte sich etwa bei Amoktaten oder Bombendrohungen verhalten sollen. Außerdem Lage- und Baupläne, dazu Ansprechpartner für den Ernstfall. Details behalten Polizei und Schulen verständlicherweise für sich.
In Bayern müssen Schulen ein Krisenteam bereit haben
Seit dem Jahr 2013 ist jede Schule in Bayern außerdem verpflichtet, neben dem Sicherheitskonzept auch ein schulisches Krisenteam auf Abruf zu haben. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der jeweilige Schulpsychologe. Im Ernstfall kann zusätzlich ein spezialisiertes Kriseninterventionsteam angefordert werden, das notfallpsychologisch unterstützt und ganz akut bei der Gefährdungseinschätzung helfen kann.
Anders als ein Feueralarm wird das Verhalten für Amokläufe an Bayerns Schulen in der Regel nicht praktisch trainiert – zumindest nicht mit Schülerinnen und Schülern. Man wolle keine Traumata auslösen und Eltern nicht verunsichern, heißt es auf Anfrage von der Polizei. Lehrkräfte und Schulangestellte üben den Ernstfall aber sehr wohl, Polizeidienststellen bieten Fortbildungen dazu an.
In Graz beginnt nun die Aufarbeitung. Die Suche nach dem Warum. Das Fragen nach dem Wie. Doch selbst wenn Antworten gefunden werden, wenn das Motiv geklärt ist, wenn über Änderungen im Waffenrecht nachgedacht wird - für die Schülerinnen und Schüler, die die Tat miterlebt haben, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Und erst recht nicht für die Familien, deren Kinder nie mehr aus der Schule heimkommen.
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