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Wer hat Esme Eryücel ermordet? Ungewissheit und Trauer in Kressbronn

Tat in Kressbronn

„Die Ungewissheit macht uns alle kaputt“: Wer hat Esme getötet?

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    Esme Eryücel  war der Mittelpunkt des Cafes Seegarten, das direkt am Bodensee liegt. Wer die beliebte Wirtin getötet hat, ist bis heute unbekannt.
    Esme Eryücel war der Mittelpunkt des Cafes Seegarten, das direkt am Bodensee liegt. Wer die beliebte Wirtin getötet hat, ist bis heute unbekannt. Foto: Julia Baumann-Scheyer

    In ihrem Café ist Esme noch überall. Auf der Theke steht ein Portrait von ihr, auf einem Tischchen sind Kerzen und bemalte Steine um ein Foto drapiert. „Für immer in unserem Herzen“, „Ich liebe Dich“, steht auf den Steinen. Und: „Du fehlst“.

    Wenn Esen Eryücel und ihre Schwester Devrim eine Pause machen, dann setzen sie sich an den Holztisch neben dem großen Baum. Es war der Lieblingsplatz ihrer Mutter, der Wirtin des Seegartens, erzählt Devrim. „Sie war der Mittelpunkt unseres Lebens.“

    Von der Terrasse des Cafés genießen viele den Blick übers Wasser

    Das Café Seegarten liegt direkt am Bodensee. Der Landungssteg der 9000-Einwohner-Gemeinde Kressbronn ist nur ein paar Meter entfernt, dort legen die Ausflugsdampfer an. Ausflügler, Radfahrer, aber auch viele Einheimische genießen von der Terrasse aus den Blick übers Wasser und auf die Schweizer Berge.

    Als die Spurensicherung das Café fünf Tage nach der Tat freigab, sperrte Esen es wieder auf – und hätte sich in den ersten Wochen am liebsten nur in der Küche beim Spülen verkrochen. „Es hat sehr wehgetan“, sagt sie. „Aber der Seegarten ist ein besonderer Ort, weil meine Mama ihn aufgebaut hat.“

    Die Tochter wurde von heute auf morgen die neue Wirtin

    Die Tochter hat das Café übernommen, obwohl sie eigentlich in München lebt. Früher hat sie nur am Wochenende ausgeholfen, nach Esmes Tod wurde sie von heute auf morgen zur Wirtin. Inzwischen gebe es ihr Kraft, die vielen Geschichten zu hören, die die Stammgäste von ihrer Mutter erzählen. „So lebt sie weiter.“

    Das Polizeiaufgebot war groß, die Leiche von Esme Eryücel wurde in der Nähe eines Ufergrundstücks am Bodensee gefunden.
    Das Polizeiaufgebot war groß, die Leiche von Esme Eryücel wurde in der Nähe eines Ufergrundstücks am Bodensee gefunden. Foto:  Florian Bodenmueller, dpa

    Und doch ist nichts wie vorher, seit die 70-Jährige vor einem Jahr auf ihrem Nachhauseweg getötet wurde. Zuletzt lebend gesehen worden war Esme am 21. Juli 2024, gegen 22.30 Uhr, als sie den Seegarten absperrte und sich auf den Heimweg machte. Sie nahm die Uferstraße, die das baden-württembergische Kressbronn mit dem bayerischen Dorf Nonnenhorn verbindet, wo ihr Zuhause war.

    Die beiden Bodensee-Gemeinden liegen nur gut einen Kilometer voneinander entfernt. Bei gutem Wetter ist die Uferstraße bis in die Abendstunden voller Radfahrer und Fußgänger. An diesem Tag war es trüb, draußen war wenig los. In ihrer Wohnung kam Esme nie an.

    Handwerker standen am Morgen vor dem verschlossenen Café

    Was in der Nacht genau passiert ist, wissen auch ihre Töchter nicht. Esen bekam einen Anruf, weil Handwerker am nächsten Morgen vor der verschlossenen Café-Tür standen. Ihre Mutter war nicht erreichbar. „Wir dachten, dass sie das vielleicht einfach vergessen hatte und zu einem anderen Termin gefahren ist.“

    Doch als dann eine Mitarbeiterin der Frühschicht zum Café kam und sah, dass das Auto der 70-Jährigen dort noch auf dem Parkplatz stand, keimten die ersten Sorgen. Liegt sie vielleicht ohnmächtig in der Wohnung?

    Esen schickte einen Freund mit der Feuerwehr dorthin, um nachzusehen. Doch die Wohnung war leer. Gegen 11.30 Uhr am Montagvormittag meldete die Familie die Wirtin als vermisst.

    Anlass für eine öffentliche Fahndung sah die Polizei zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Doch Beamte riefen in den umliegenden Krankenhäusern an, Streifenpolizisten suchten nach der Wirtin.

    Auf diesem Ufergrundstück in Nonnenhorn am Bodensee ist im Juli 2024 die Leiche der 70 Jahre alten Cafébetreiberin gefunden worden.
    Auf diesem Ufergrundstück in Nonnenhorn am Bodensee ist im Juli 2024 die Leiche der 70 Jahre alten Cafébetreiberin gefunden worden. Foto: Florian Bodenmueller, dpa

    „Wir hofften immer noch, dass es einfach ein Kommunikationsproblem gab“, erinnert sich Esen. Doch als ihre Mutter auch um 17 Uhr nicht im Café erschien, waren Familie und Kolleginnen sicher, dass etwas passiert sein musste. „Um diese Uhrzeit wird es im Seegarten voll, da wäre sie immer da gewesen.“

    Die Familie organisierte eine private Suchaktion. Viele Menschen teilten die Vermisstenmeldung in den sozialen Medien und über Whatsapp. Nur Stunden später löschten sie sie wieder. Gegen 21 Uhr am Montagabend fand ein Mann die Leiche von Esme auf einem privaten Gartengrundstück. Sie lag neben einer Laube direkt am Bodensee – ein Stück abseits des Wegs, den sie gegangen war.

    Fast 100 Beamtinnen und Beamte, Polizeitaucher und Drohnenspezialisten durchkämmten in den Tagen darauf das Gebiet rund um den Fundort. Sie suchten an Land und im See nach Beweismitteln. Bis heute fehlt Esmes rechter Turnschuh. Die Polizei hatte öffentlich mit Foto nach ihm gesucht, doch er ist nie wieder aufgetaucht.

    Auch in der Wohnung der Getöteten sicherten die Beamten Spuren. Monate zuvor war dort schonmal eingebrochen worden.

    Devrim ist vor ein paar Wochen aus der Türkei gekommen, um ihrer Schwester im Café zu helfen. „Es ist schlimm genug, dass wir unsere Mutter verloren haben“, sagt sie. „Die Ungewissheit macht uns alle kaputt.“ Die Gedanken kreisen immer wieder darum, wer das getan hat. Wer ihre Mutter getötet hat. „Wir fragen uns natürlich: Kennen wir die Person? Begegnen wir ihr jeden Tag?“ Sie fühle sich nicht sicher, bevor der oder die Täter gefasst sind.

    Wie oft hatten die beiden Schwestern ihre Mutter gebeten, nachts nicht allein zu laufen. „Aber sie hat immer gesagt: Das ist meine Heimat, hier passiert mir nichts“, sagt Devrim. „Sie hat sich hier so sicher gefühlt.“

    Sie hat immer gesagt: Das ist mein Wohnzimmer. Und so hat sie ihre Gäste auch behandelt.“

    Devrim Eryücel, Tochter der getöteten Esme Eryücel

    Auch ein Jahr nach dem schrecklichen Verbrechen haben manche Stammgäste noch Tränen in den Augen, wenn sie das Café betreten. Der Seegarten war für Esme nie nur ein Geschäft. „Sie hat immer gesagt: Das ist mein Wohnzimmer“, erzählt Devrim. „Und so hat sie ihre Gäste auch behandelt.“

    Für viele Kinder ist die Café-Betreiberin eine Ersatz-Oma gewesen

    Für viele Kinder ist die Café-Betreiberin eine Ersatz-Oma gewesen, die bei den Hausaufgaben half und beruhigte, wenn die Prüfungsangst zu groß wurde. Und Esme war jemand, der gern half. So wie der Braut, die dringend ein Ersatzkleid für die Hochzeit brauchte. Die Wirtin lieh ihr kurzerhand eines ihrer vielen weißen Kleider, die sie selbst so gern trug. Esme fehlt. Nicht nur ihren Töchtern.

    Es ist heftig. Da ist jemand, der hat jemanden umgebracht - und läuft noch frei herum.“

    Rainer Krauß, Bürgermeister von Nonnenhorn

    Die Nachricht über das Verbrechen hat die ganze Region erschüttert. Sein Dorf hat die schreckliche Tat noch nicht überwunden, sagt Nonnenhorns Bürgermeister Rainer Krauß. „Die Leute fragen mich immer wieder danach.“ Und obwohl sich schnell vieles darauf verdichtet habe, dass die 70-Jährige gezielt ausgesucht worden war, sei neben der Trauer lange auch die Unsicherheit groß gewesen. „Es ist heftig“, sagt Krauß. „Da ist jemand, der hat jemanden umgebracht – und läuft noch frei herum.“

    Beerdigt wurde Esme in der Türkei. Doch die Menschen in der Region wünschten sich eine Trauerfeier. „Nonnenhorn ist eine Familie, und meine Mutter hat dazugehört“, sagt Devrim. Die Gemeinde organisierte eine Gedenkandacht in der Dorfkirche, zu der 400 Menschen kamen. Devrim und weitere Familienmitglieder reisten aus der Türkei an, Touristen kamen zum Teil von weit her. Vor dem Café in Kressbronn lag wochenlang ein Meer aus Blumen.

    Die zweite Frage, die die Familie und viele andere quält, ist die nach dem Warum. Warum hat jemand Esme getötet? „Für Geld?“, fragt ihre Tochter Esen. Als sie getötet wurde, hatte ihre Mutter die Tageseinnahmen des Cafés dabei. Allerdings sei wegen des Wetters im Seegarten wenig los gewesen. „Und meine Mutter war so eine kleine Person – warum hat man das Geld nicht einfach genommen?“

    Beantworten könnte das nur der oder die Täter. Andere Fragen sind offen, weil sich die Polizei in Bezug auf den Fall sehr bedeckt hält. Bis heute geben die Beamten zum Beispiel nicht preis, wie Esme ums Leben kam. „Die genauen Todesumstände kennt nur ein sehr kleiner Kreis“, sagt Polizeisprecher Christian Lindstedt. Solange die Details zur Tat nicht öffentlich sind, kann solches Täterwissen ein wichtiger Trumpf bei der Befragung von Verdächtigen sein.

    In der Statistik des zuständigen Polizeipräsidiums in Kempten ist der Fall vom Bodensee der einzige Mordfall aus dem vergangenen Jahr mit dem Vermerk „ungeklärt“ – auch wenn Lindstedt der Begriff in diesem Zusammenhang nicht gefällt. „Das klingt so nach Cold Case, nach dem Motto: Das ist abgeschlossen, da passiert nichts mehr.“ Doch abgeschlossen sei der Fall für die Polizei keineswegs. Die Sonderkommission mit dem Namen „Café“ existiere nach wie vor mit dem Ziel, „den oder die Verantwortlichen für die Tat zu ermitteln“.

    Die „Soko Café“ wurde verkleinert

    In der Anfangszeit arbeiteten bis zu 50 Frauen und Männer in der „Soko Café“ daran, das Verbrechen aufzuklären. Mittlerweile wurde die Einheit natürlich verkleinert, sagt Polizeisprecher Lindstedt. „Aber es gibt immer noch Kolleginnen und Kollegen, die sich nahezu ausschließlich mit dem Fall beschäftigen“, versichert er.

    Esen und ihre Schwester glauben fest daran, dass der Mörder ihrer Mutter gefasst wird. „Für das, was man getan hat, wird man am Ende immer büßen“, sagt Devrim.

    Den Seegarten will die Familie weiter betreiben. „In Erinnerung an unsere Mama“, sagt Esen. „Er soll ihr Wohnzimmer bleiben.“ Zur Unterstützung hat die Familie nun eine Köchin aus der Türkei eingestellt. Das Bezahlsystem im Café werden die Schwestern umstellen. „Bargeld nehmen wir dann nicht mehr an.“

    Manchmal habe sie das Gefühl, ihre Mutter komme gleich ums Eck, erzählt Esen. Wenn sie sich in der Kaffeepause zu den anderen Mitarbeiterinnen stellt und dann ein paar Minuten keiner nach den Gästen schaut. Oder wenn sie sich zu strikt an die Öffnungszeiten hält. „Wenn ich solche Dinge mache, die sie nicht gern gesehen hat, zucke ich noch immer kurz zusammen.“

    Viele Gäste geben den Schwestern Kraft

    Neben Familie und Freunden geben auch die Gäste im Café den Schwestern Kraft. Nicht nur, weil sie ihre Mutter mit ihren vielen schönen Geschichten am Leben halten. Viele von ihnen haben direkt nach der Tat ihre Unterstützung angeboten. Wenn sie die Nachricht eines Nonnenhorner Paares vorliest, treibt es Esen auch heute noch die Tränen in die Augen. Die beiden hatten ihr kurz nach dem Tod ihrer Mutter angeboten, ihr Büro bei ihnen einzurichten. Damit sie nicht so allein ist.

    Vor einer Woche hat die Familie zu einer Trauerfeier in den Seegarten eingeladen. Genau ein Jahr, nachdem Esme getötet wurde, macht sich ein stiller Trauerzug von Kressbronn in Richtung Nonnenhorn auf. Kerzen geleiten den Weg, den sie kurz vor ihrem Tod gegangen ist.

    Familie und Freunde platzieren Blumen und Windlichter an die Stelle der Uferstraße, wo Esme auf den Täter getroffen sein könnte „Wir wünschen uns, dass der Mörder meiner Mutter bald geschnappt wird“, sagt Devrim. „Erst dann können wir Frieden finden.“

    Für einen Frühstücksgast schloss sie früher auf und blieb trotzdem bis Mitternacht

    Viele Gäste haben die Töchter darum gebeten, dass im Seegarten alles so beibehalten wird, „wie Esme es gemacht hat“. Aber diesen Menschen, der morgens wegen eines einzigen Frühstücksgasts früher aufmache und dann trotzdem mit dem letzten Gast bis Mitternacht bleibe – den gebe es einfach nicht mehr, sagt Esen. „Dieser Mensch war meine Mutter.“

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