Wer dieser Tage an der Kirche Sagrada Família („Heilige Familie“) vorbeischlendert, muss unweigerlich staunen: Ja, sie wächst immer noch – und wie! Seit mehr als 140 Jahren schraubt sich Barcelonas berühmtestes unfertiges Bauwerk Stück für Stück dem Himmel entgegen. Jetzt steht das Herzstück kurz vor der Vollendung: der Jesus-Turm. Ganze 172,5 Meter hoch soll er werden – und er krönt das wohl spektakulärste Gotteshaus Europas mit einem riesigen gläsernen Kreuz.
Damit wird Gaudís Meisterwerk zur höchsten christlichen Kirche der Welt. Der bisherige Rekordhalter, das baden-württembergische Ulmer Münster mit 161,5 Metern, muss sich bald mit Platz zwei zufriedengeben.
Sagrada Família: Happy End zum 100. Todestags von Gaudí
Der große Moment, auf den viele stolze Ulmerinnen und Ulmer bang blicken, ist nah: Ende 2025 soll der Jesus-Turm in Barcelona fertig sein. 2026, exakt 100 Jahre nach dem Tod des katalanischen Architekten Antoni Gaudí (1852–1926), wird gefeiert – mit Segnung, Glanz und Gloria.
Bereits 1984 adelte die Unesco das Bauwerk zum Weltkulturerbe, 2010 wurde die Basilika von Papst Benedikt XVI. geweiht. Damals nannte er die Kirche eine „wunderbare Synthese aus Technik, Kunst und Glauben“. Rund um den Hauptturm gruppieren sich vier kleinere Türme (jeweils 123 Meter hoch), die den Evangelisten gewidmet sind. Dazu kommt ein 138 Meter hoher Maria-Turm – und zwölf weitere Türme für die Apostel.
Aber nichts übertrifft das, was bald obenauf kommt: ein Kreuz. 17 Meter hoch, 13,5 Meter breit, aus Glas und Stahl – und mit integrierter Aussichtsplattform, erreichbar per Aufzug. Tagsüber spiegelt es das Sonnenlicht, nachts soll es leuchten wie ein Stern. Der aktuelle Architekt Jordi Faulí ist stolz: „Das Kreuz verändert im Laufe des Tages sein Aussehen.“ Ein Spiel aus Licht, Farbe und Perspektive.

Doch auch wenn das neue Wahrzeichen bald glänzt – ganz fertig ist die Sagrada Família damit noch lange nicht. Gute Frage. Seit dem ersten Spatenstich 1882 wurde viel gemeißelt, gesägt und geplant – aber ein genaues Fertigstellungsdatum gibt es bis heute nicht. Die mutigsten Prognosen sprechen von 2033, vorsichtigere Verantwortliche flüstern „vielleicht eher 2035“. Denn es gibt noch einiges zu tun: eine Kapelle für die Himmelfahrt Mariens, die monumentale Hauptfassade mit sieben Portalen, ein großer Vorplatz mit Freitreppe – genau der sorgt derzeit für Ärger. Zwei ganze Wohnblocks müssten dafür abgerissen werden. Die Anwohnerinnen und Anwohner sind – wenig überraschend – nicht begeistert. Von den Balkonen hängen Protestbanner wie: „Unsere Wohnungen bleiben!“ Oder: „Der Kirchenbau ist ein großes Geschäft!“
Rein finanziell läuft es gut für den Kirchenbauverein: 133,9 Millionen Euro hat die Sagrada Família im Jahr 2024 eingenommen – vor allem durch die knapp 4,9 Millionen Besucherinnen und Besucher. Der Eintritt kostet 26 Euro, mit Turmbesuch 36 Euro. Die Tickets müssen wegen des großen Andrangs oft Tage oder Wochen im Voraus reserviert werden. Auch Souvenirshops und Spenden tragen zum Budget bei.
Die Sagrada Família finanziert sich selbst – ohne einen Cent Kirchensteuer
Schon jetzt ist das Gotteshaus ein Wallfahrtsort – das meistbesuchte Monument Spaniens und das Wahrzeichen der Mittelmeermetropole Barcelona. Und das alles ohne einen einzigen Cent an Steuergeldern oder Kirchensteuer. Die Basilika finanziert sich selbst. Ein Modell, das funktioniert – und eine Seltenheit in der Welt der Großprojekte. Aber leicht war das nicht immer: Finanzkrisen, Kriege und der Verlust vieler Originalpläne – sie wurden 1936 beim Brand von Gaudís Werkstatt im Bürgerkrieg vernichtet – warfen das Projekt immer wieder zurück.
Gaudí wollte keine gewöhnliche Kathedrale – er wollte eine spirituelle Landschaft. „Alles fließt“, sagte er einmal. Und: „Mein Auftraggeber hat keine Eile.“ Gemeint war – natürlich – Gott persönlich. Gaudí übernahm die Bauleitung 1883 und starb 1926 mit 73 Jahren – tragisch von einer Straßenbahn überfahren, nur wenige Meter von seiner geliebten Kirche entfernt. Seitdem tragen Generationen von Architekten, Künstlern und Handwerkern seine Vision weiter.
Heute ist die Sagrada Família, die auf ihren 4500 Quadratmetern bis zu 14.000 Besucher gleichzeitig aufnehmen kann, ein Symbol für Geduld, Glauben und Entschlossenheit. Und bald wird sie auch noch die höchste Kirche der Welt sein. Nur die Ulmerinnen und Ulmer, die Münsterfreunde im Süden Deutschlands, die dürften darüber nicht allzu begeistert sein.
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