Wenn die parlamentarische Sommerpause zu Ende geht, kehren die Abgeordneten aus ganz Deutschland nach Berlin zurück. Jeden Abend wird irgendwo in der Hauptstadt ein Fest gefeiert zur sogenannten Rentrée nach den Ferien. Die bayerische Staatsregierung lädt zum Berliner Oktoberfest mit original Wiesn-Bier, der Energieriese RWE gibt sich die Ehre an der Museumsinsel, CDU-Nachwuchshoffnung Paul Ziemiak macht anlässlich seines 40. Geburtstags Party in einer Bar in Mitte. Die Gespräche sind freundlich und die Stimmung ist mild, wie der späte Sommer.
Den Auftakt machte am Montag der Seeheimer Kreis, die Vereinigung der Konservativen in der SPD. Im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft kommen unter hohen Bäumen Politiker, Lobbyisten und Journalisten zusammen. Der Bundeskanzler von der CDU ist auch eingeladen. Auf der Bühne hält Friedrich Merz eine kurze, launige Rede. Er hat extra eine rote Krawatte angelegt. Ob das Zufall war?
Der Urlaub war kurz für den Kanzler
Mit leichter Ironie umgarnt er die Genossen, lobte die SPD als fantasievolle Partei. „Denn Sie haben ja auch viel im Angebot. Ich sag‘s mal salopp: Von Basta bis Bullshit ist ziemlich viel dabei“, sagt Merz. Er spielt damit auf einen Satz der SPD-Vorsitzenden Bärbel Bas an, die auf der Bühne neben ihm steht. Sie hatte die stetig wiederkehrenden Forderungen nach weniger Sozialstaat als eben Bullshit bezeichnet. Merz sagt auch, dass SPD und CDU/CSU mehr gemeinsam hätten als Trennendes.
An diesem Abend hält die Eintracht zwischen dem CDU-Kanzler und der SPD-Vorsitzenden. Während der Ferien tönten laute Störgeräusche aus dem Sommerloch. Krieg in der Ukraine, Krieg im Gaza-Streifen – an schlechten Nachrichten mangelte es gewiss nicht. Die neue Koalition schaffte es, noch zusätzliche zu produzieren. Vor den Ferien waren die frisch-verbandelten Partner im Zoff über die Richterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf heftig aneinandergeraten. Das wirkte nach. „Es rüttelt sich ordentlich zurecht“, sagt Merz bei der SPD-Gartenparty. Bislang hat es mehr gerüttelt als dass es ins rechte Verhältnis kam.
Der Urlaub war kurz für den Kanzler. Immer wieder waren die freien Tage von diplomatischen Missionen unterbrochen, um US-Präsident Donald Trump davon abzuhalten, mit Russlands Staatschef Wladimir Putin das Schicksal der Ukraine zu besiegeln. Auf der Weltbühne schlägt sich der Kanzler mit Bravour, ist einer der Ansprechpartner Trumps in Europa. Doch das mühselige Klein-Klein in Berlin will ihm noch nicht glücken.
Merz ist damit selbst nicht zufrieden. Kein halbes Jahr nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte muss schon ein Neuanfang beschworen werden. Der Neuanfang nach dem Neuanfang. Auch die Ampel-Koalition wollte ein neuer Anfang sein und endete im Dauerfrust. Auch bei den Nachfolgern ampelte es schon heftig. Nun wird von CDU und CSU ein Herbst der Reformen beschworen. Bei den Sozialdemokraten werden da ungute Erinnerungen an den Herbst der Entscheidungen wach, der schließlich zum Bruch des Bündnisses mit FDP und Grünen und zum Verlust des Kanzleramtes führte.
Klingbeil lobt Schröder, das kommt an, zumindest beim Koalitionspartner
Die milde Stimmung der Sommerfeste, sie will nicht zur Lage des Landes passen. Deutschland wird ärmer. In der Industrie gehen jeden Monat zehntausend Jobs verloren. Traditionsunternehmen machen Bankrott. Krankenhäuser kämpfen um das ökonomische Überleben. Trotz neuer Milliardenschulden klaffen große Löcher im Haushalt. Der Sozialstaat ist unbezahlbar geworden. Da brechen Säulen des deutschen Selbstverständnisses weg. Doch bevor Union und SPD kraftvolle Antworten geben wollen, sollen die Experten ran. Schwarz-Rot richtet Kommissionen ein. In einer Sozialstaatsreform soll SPD-Chefin und Arbeitsministerin Bärbel Bas die Blaupause für die Abschaffung des Bürgergeldes erarbeiten. Kommende Woche konstituiert sich eine Kommission zur Stabilisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Bereits gestartet ist eine Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft zur Zukunft der Pflege. Daneben gibt es die Kommission zur Reform der Schuldenbremse. Und eine andere Expertenrunde soll Vorschläge zur Rettung der Rentenkasse erarbeiten. Die Kommissioneritis greift um sich. Was das zweite große Projekt angeht, das Ankurbeln der Wirtschaft, setzt man erstmal auf den großen Bruder der Kommission, den „Gipfel“: Einen Autogipfel soll es geben und einen Stahlgipfel.
In den vergangenen Jahrzehnten haben etliche Wissenschaftler und Fachleute für die Regierenden Reformpapiere vollgeschrieben. Auf Gipfeln wurden Erklärungen verabschiedet. Sie alle verstauben unbeachtet in Schubladen. Politiker interessieren sich nicht besonders dafür, was ihnen kluge Köpfe aufschreiben. Wenn die Vorschläge nicht zur Parteilinie passen oder den Wahlerfolg gefährden, sind sie bloß Buchstaben auf Papier. Der letzte Kanzler, der in dieser Hinsicht etwas riskiert hat, war Gerhard Schröder. Er verlor die Wahl, Angela Merkel ernte die Früchte der Hartz-Reformen. Und verlegte sich 16 Jahre auf das Verwalten.
Finanzminister Lars Klingbeil, der sich mit Bas den Vorsitz der SPD teilt, hat neulich eben jenen Mut Schröders gelobt. Einst hatte Klingbeil in Schröders Büro seine politische Karriere begonnen. Bei der Union ist der Bezug zur damaligen Agenda 2010 wohlwollend aufgenommen worden. In der SPD weniger. Die Partei laborierte 20 Jahre am gefühlten Verrat an den kleinen Leuten, wähnte sich mit der Einführung des Bürgergeldes auf der Straße der Versöhnung, nur um bei der Wahl Ende Februar festzustellen, dass die kleinen Leute ihr Kreuz woanders machen.
Damit die Kommissionen nicht nur Spesenrechnungen produzieren, ist es für die Union zentral, die SPD-Linke Bas für Einschnitte zu gewinnen. Nicht nur, weil sie es bei ihr schwieriger als beim Konservativen Klingbeil hat. Mit der Reform des Bürgergelds, der Effizienzsteigerung im Sozialstaat und der langfristigen Finanzierung der Renten fallen mindestens drei Großprojekte in das Bas-Ressort.
So gaben sich beide zuletzt Mühe, Einigkeit zu beweisen. „Wir haben wirklich ein ausgesprochen gutes, kollegiales, offenes Gespräch miteinander gehabt“, sagte Merz, als Union und SPD sich vergangene Woche zum Koalitionsausschuss trafen. Am Abend zuvor hatten Bas und Merz bereits unter vier Augen miteinander gesprochen. Man habe ein leichtes Abendessen zu sich genommen, zwei Gläser Bier getrunken und sich über die Themen ausgetauscht. „Dass da mal auch ein hartes Wort fällt, in der politischen Auseinandersetzung, in der wir uns befinden, ist okay“, sagte Merz und fügte hinzu: „Das kannst du ertragen und ich auch.“ Bisher hatten sich Merz und Bas, öffentlich zumindest, nicht geduzt.
Dass Merz Angriffe ertragen kann, daran gibt es keinen Zweifel. Der Kanzler, so macht es den Eindruck, schwebt ohnehin immer ein wenig über den Dingen. Das kann Vorteile haben. So strahlt der Kanzler bisweilen eine erstaunliche Gelassenheit aus. Als seine Sozialministerin den Bullshit-Satz auspackte, gab er sich entspannt. So müsse man halt reden, wenn man vor den Jusos spreche. Gut möglich, dass er damit recht hat. Die Sozialdemokraten und vor allem die Duisburgerin Bärbel Bas schielen auf die Kommunalwahlen in NRW. Harte Ansagen sollen der eigenen Partei Profil verleihen. Oder zumindest den Anschein von Profil.
Neue Richterwahl: Kleiner Erfolg der Geschlossenheit
Das Problem mit dem Über-den-Dingen-Schweben ist nur, dass man schnell vergisst, was am Boden eigentlich los ist. Das wird Friedrich Merz, aber auch dem Rest seiner Koalition gerne zum Vorwurf gemacht. So habe er beispielsweise die Ablehnung seiner Fraktion in der Causa Brosius-Gersdorf ebenso wenig kommen sehen wie die Aufregung nach der Ankündigung, Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Merz fälle Entscheidungen alleine, nehme Partei und Fraktion nicht genug mit. So oder so ähnlich lautet dann der Vorwurf. Gerne verbunden mit dem Hinweis, Merkel oder Kohl wäre das nicht passiert. Und wenn es an die Sozialreformen geht, die für beide Fraktionen zur Herausforderung werden, darf es eben auch nicht mehr passieren.
Ob man die Diagnose nun teilen mag oder nicht: Sie scheint durchzudringen. In der Koalition gelobte man zuletzt Besserung, auch wenn es nicht der Kanzler selbst war, der das aussprach. „Wir müssen die Parteien, die Abgeordneten mitnehmen“, sagte CSU-Chef Markus Söder am Abend, als sich der Koalitionsausschuss traf. Und so gaben sich zuletzt nicht nur der Kanzler und seine Kabinettsmitglieder größte Mühe, Einigkeit zu beweisen. Sondern auch die Fraktionsspitzen. Jens Spahn (CDU) und Matthias Miersch (SPD) reisten zuletzt gemeinsam nach Kiew. In einer gemeinsamen Fraktionsklausur schwor man Einigkeit, Unstimmigkeiten zwischen Union und SPD sind zumindest öffentlich zuletzt kaum zu vernehmen. Das wird noch wichtig, denn diese Regierung steht auf einem wackeligen Fundament. Zwölf Stimmen Mehrheit hat Schwarz-Rot im Bundestag.
Es sind vielleicht kleine Erfolge der Geschlossenheit. Immerhin scheinen Rote und Schwarze mit der Juristin Sigrid Emmenegger eine Konsenskandidatin für das Bundesverfassungsgericht gefunden zu haben, die beide Seiten mittragen. „Die Fraktionsführungen haben jeweils in persönlichen Gesprächen ein sehr positives Bild von Frau Dr. Emmenegger gewinnen können und sind von ihrer persönlichen und fachlichen Geeignetheit für das Amt überzeugt“, heißt es in einem gemeinsamen Schreiben der Parlamentarischen Geschäftsführer von SPD und Union. So viel Gemeinsamkeit war zuletzt selten in der Koalition. Gelegenheit, sich gegenseitig Kränze zu flechten und Verstimmungen bei einem Getränk zu beseitigen, gibt es auch nächste Woche reichlich. Zum Beispiel beim Hausfest der Eisenbahner oder dem Terrassenempfang der Handwerker. Kein Bullshit.
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