Angela Merkel hatte lang gebraucht, um die Deutschen in ihr Herz blicken zu lassen. Am Tag der Deutschen Einheit, vor vier Jahren in Halle, kurz bevor sie ihr Amt als Regierungschefin abgeben würde, war es dann so weit. In ihrer Rede beim offiziellen Festakt brach der Unmut darüber heraus, dass ihre Ost-Biographie oft als „Ballast“ wahrgenommen worden sei. „Müssen nicht Menschen (…) aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land (…) gleichsam immer wieder neu beweisen, so als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR, irgendwie eine Art Zumutung?“, fragte Merkel.
Eine Sichtweise von vielen, sicherlich. Doch auch wenn der 3. Oktober ein etwas künstlicher Feiertag ist, auch wenn der 9. November, jener Schicksalstag der Deutschen im Guten (1989) wie im abgrundtief Bösen (1938), womöglich die bessere Wahl gewesen wäre, bietet dieser Tag die Gelegenheit kurz innezuhalten und zu reflektieren, ähnlich wie Merkel vor ein paar Jahren: Was haben wir aus dem Geschenk der Wiedereinigung gemacht? Und: Wo sind wir (noch) nicht weit genug gekommen?

Zunächst: Es ist viel gelungen. Die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West haben sich angeglichen. Die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl einst versprochen hat – heute sind sie tatsächlich oftmals Wirklichkeit geworden. Längst nicht jeder Betrieb, den die Treuhandanstalt privatisierte, wurde von windigen Geschäftemachern abgewickelt. Sicher, es gab Ungerechtigkeiten bei der Behandlung ostdeutscher Biographien, bei den Entlassungen von Professoren und Lehrern etwa. Und da sind, noch heute, die geringere Wirtschaftskraft, die demographische Entwicklung, Unterschiede auf dem Gehaltszettel, und ja, auch beim Wahlverhalten.
Die deutsche Einheit ist eine Erfolgsgeschichte
Insgesamt aber ist die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte. Wo einst eine brutale und kleingeistige Diktatur herrschte, leben 17 Millionen Deutsche seit nunmehr 35 Jahren in Frieden und Freiheit.
Alles gut also? Natürlich nicht. Die Wiedervereinigung vor 35 Jahren kam wie ein Geschenk über die Deutschen, erstritten von den Bürgerrechtlern der DDR, wie Merkel betont. Haben wir genug daraus gemacht? Diese Frage darf man stellen.
Nach dem Fall der Mauer war Deutschland mit einem Mal nur noch von Freunden umgehen, doch ein dauerhafter Friede in Europa ist bis heute nicht daraus geworden, im Gegenteil. Vom Ende der Geschichte, das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vor gut 35 Jahren ausgerufen hatte, vom dauerhaften Vormarsch der liberalen westlichen Demokratie, nach der Menschen auf der ganzen Welt streben, kann keine Rede mehr sein.
Eine größer gewordene EU konnte ihre Rolle als Fortschritts -und Friedensmotor in der Nachbarschaft, geschweige denn der Welt nur bedingt erfüllen. Heute sind Demokratien weltweit in der Defensive und auch Europa ist gespaltener denn je. Ungarn, die Slowakei, aber auch teilweise Polen wollen eine andere Gemeinschaft, Regierungschefs wie Viktor Orbán dienen sich Putin an. Und die USA, ohne die die Wiedervereinigung vor 35 Jahren nicht möglich gewesen wäre, haben ihr Interesse am alten Kontinent verloren, ausgerechnet jetzt, da wieder Krieg herrscht in Europa.

Gorbatschows Riesenreich zerfiel weitgehend ohne Waffengewalt. 35 Jahre später versucht Putin seine russische Großmachtphantasie herbeizubomben. Sein Krieg gegen die Ukraine geht nun bald in das vierte Jahr. Und beinahe täglich testen russische Drohen und Kampfjets die Reaktionsfähigkeit der Nato. Nicht umsonst meldete sich Kanzler Friedrich Merz kurz vor dem Feiertag mit einem bemerkenswerten Satz: „Wir sind nicht im Krieg, aber wir leben auch nicht mehr im Frieden.“
Auch das hätte vor 35 Jahren keiner für möglich gehalten.
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