Er hat lange geschwiegen. Und man darf Merz getrost abnehmen, dass ihm diese Worte nicht leicht gefallen sind. Der Zwiespalt, in dem er sich bewegt, war in jeder Silbe zu spüren. Dass ein deutscher Kanzler der israelischen Regierung offen vorwirft, das humanitäre Völkerrecht zu verletzen, ist nicht anders zu werten denn als außenpolitischer Kurswechsel. Es ist ein überfälliger Schritt, denn längst lief Deutschland Gefahr, seine politische Glaubwürdigkeit zu verspielen. Das Offensichtliche mit hohlen Phrasen umzudeuten, wirkt umso fahrlässiger in einer Welt, in der die schützende Hand des Rechts von so vielen Akteuren infrage gestellt wird.
Israel nimmt nicht nur wegen der tonnenschweren Last seiner Geschichte im Nahen Osten immer eine Sonderrolle ein. Das Land ist eine der wenigen stabilen Demokratien, ein Rechtsstaat – und genau daran muss sich Benjamin Netanjahu auch messen lassen. So schwer erträglich es auch manchmal ist, dass der Kampf gegen eine Terrororganisation mit ungleichen Waffen geführt wird – wirft ein Staat die Pflicht über Bord, die Verhältnismäßigkeit zu wahren, verwirkt er auch seine uneingeschränkte Unterstützung. Und dass sich die israelische Regierung im Gazastreifen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat, daran konnte es keinen Zweifel mehr geben.

Die israelische Regierung führt einen Rachefeldzug im Gazastreifen
Aus dem berechtigten Versuch, sich gegen die Hamas zu verteidigen, wurde ein erbarmungsloser Rachefeldzug, wie ihn die zivilisierte Welt nur selten erlebt. Zu einem immer hemmungsloseren Vorgehen drängten die rechtsextremen Koalitionspartner den Ministerpräsidenten. Sie sahen die Chance gekommen, ihre kühnen Träume zu verwirklichen und den Gazastreifen zu israelischem Boden zu machen. Männer wie Ben-Gvir, ein Rechtsextremist, ein Rassist, ein Ultranationalist, schämen sich noch nicht einmal mehr, das öffentlich auszusprechen. Der Schutz der Palästinenser wurde zur lästigen Nebensache. Für das israelische Militär genauso wie für die Hamas. Gerade aus der historischen Verpflichtung Deutschlands, sich für Menschenrechte einzusetzen, erwuchs daher das Gebot, glasklar Stellung zu beziehen. Alles andere wäre unverzeihlich. Denn wer wegschaut, macht sich mitschuldig. Das gilt für Freunde umso mehr.
Und doch sei davor gewarnt, vom einen Extrem ins andere zu fallen. Die Schreihälse, die auf den Straßen Berlins ihre dumpfe Parole „free Palestine from German guilt“ brüllen, mögen sich als Gewinner im Wettstreit der Geschichtsdeutung fühlen. Doch sowohl der Nahostkonflikt als auch die deutsche Verantwortung für Israel sind zu komplex für einfache Schlüsse. „Normal“ muss und soll das Verhältnis der beiden Länder 80 Jahre nach dem Ende des Holocaust nicht sein. Der Versuch, die berechtigte Kritik an der israelischen Regierung als willkommenen Ausweg aus der „Kollektivschuld“ zu nehmen, ist falsch. Geschichte lässt sich nicht abschütteln. Deutschland muss deshalb auch künftig nicht in der vordersten Reihe stehen, wenn es um Kritik an der israelischen Regierung geht. Es gibt gute Gründe, die Worte penibel genau abzuwägen. Klar müssen sie sein, nicht drastisch. Verpflichtet dem Recht und der Humanität.
Was wird aus der „deutschen Staatsräson“?
Es gibt einfachere Aufgaben. Doch die bequemen Zeiten, in denen man sich auf das Schwurbelwort von der „Staatsräson“ zurückziehen konnte, sind vorbei. Es geht nicht um philosophische Rückzugsräume, sondern um knallharte Realitäten. Und die verlangen nach Antworten. Wird Deutschland den europäischen Vorstoß unterstützen, das EU-Assoziierungsabkommen auszusetzen? Wird sich die Bundesregierung für ein Waffenembargo, wie es unter anderem die Spanier fordern, aussprechen? Der Druck auf Kanzler Merz wird steigen. Man darf gespannt sein, wie er dem standhält.
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