Dabei hatte er es sogar geübt. Nach der Abstimmung über das Sondervermögen vergangene Woche durfte Gregor Gysi probesitzen auf dem Platz, der sonst reserviert ist für die Bundestagspräsidentin oder ihre Stellvertreter. Gysi ließ sich die Knöpfe erklären, testete den höhenverstellbaren Stuhl, ließ das Pult hoch- und wieder herunterfahren. Es sollte alles klappen, wenn er als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des Bundestags eröffnet.
Genützt hat die Übung wenig. Gysi vergisst, das Mikrofon anzuschalten, bis seine Kollegen ihn darauf hinweisen. Und auch sonst ist die Rede für Gysi-Verhältnisse eher fade.
Dabei waren die Erwartungen hoch. Bevor die Sitzung startete, gab es unter den Abgeordneten und Journalisten vor allem drei Gesprächsthemen: die hohe Polizeipräsenz („viel mehr als in den letzten Jahren, oder?“), der große AfD-Block („krass, wenn man das sieht“) und die Gysi-Rede („auf Gregors Auftritt freue ich mich“).
Alterspräsident eröffnet konstituierende Sitzung: Gregor Gysi redet wenig gysihaft
Doch der Linken-Veteran kann die Hoffnungen nicht erfüllen. Er klebt – ganz ungysihaft – am Blatt, verhaspelt sich und wirkt aufgeregt. Gysi macht ein Fass nach dem anderen auf. Krieg und Frieden in der Ukraine, Krieg und Frieden in Israel und Palästina, die Aufarbeitung der Corona-Diktatur, Bürokratieabbau und die bessere Gleichstellung von Ostdeutschen. Und er forderte, dass die Universität Trier nach Karl Marx benannt wird, der aus der Stadt stammt. „Selbstverständlich darf auch er kritisiert werden, aber er ist und bleibt ein großer Sohn unseres Volkes“, meinte Gysi.
Als Alterspräsident hat Gysi an diesem Tag unbegrenzt Redezeit. Linken-Chef Jan van Aken hatte zuvor noch eine Flasche Wein gewettet, dass Gysi mindestens 80 Minuten reden werde. Es wurden 36. Was aber immer noch verhältnismäßig lang ist. Zum Vergleich: Konrad Adenauer, der 1965 als Alterspräsident die Sitzung eröffnete, genügten vier Sätze.
Von den über 30 Minuten Redezeit braucht Gysi etwa 20, um überhaupt auf Gysi-Temperatur zu kommen. Sein stärkster Moment handelte von Christbäumen. Er spöttelt über das komplizierte deutsche Steuerrecht mit seinen zahllosen Ausnahmen und Sonderregelungen. „Es gibt fünf verschiedene Umsatzsteuern für Weihnachtsbäume“, sagt der 77-Jährige und zählt dann auf: 19 Prozent auf den künstlichen Weihnachtsbaum, gezüchtet 10,7 Prozent, sieben auf den selbstgeschlagenen von der Plantage, 5,5 Prozent bei der Forstwirtschaft. „Und dann gibt es noch die Möglichkeit, dass man rechtswidrig sich selbst einen Baum im Wald schlägt, und der zieht gar keine Umsatzsteuer nach sich.“ Schmunzeln unter den Abgeordneten. Es ist das, was von Gysi erwartet wurde. Einen berechtigten Punkt witzig zu verpacken.
Gysi ist geschätzt, aber nicht unumstritten
Aber es gibt auch andere Reaktionen. Die AfD ruft immer wieder dazwischen: „Es reicht jetzt, Herr Gysi“. Armin Laschet verlässt vorübergehend den Saal. Und der CDU-Abgeordnete Sepp Müller gibt sich demonstrativ in ein Buch versunken: „Die Täter sind unter uns – Über das Schönreden der SED-Diktatur“ von dem Historiker Hubertus Knabe.
Denn Gysi ist zwar über die Fraktionsgrenzen hinweg geschätzt. Unumstritten aber ist er nicht. Eben jener Hubertus Knabe, dessen Buch Müller in die Höhe hält, schrieb auf der Plattform X vor der Sitzung: „Ein Treppenwitz der Geschichte: Der Mann, der jahrzehntelang die Bundesrepublik bekämpft hat, darf jetzt deren Bundestag eröffnen.“ Gysi hatte die einstige DDR-Staatspartei SED als PDS in das Parteiensystem der Bundesrepublik geführt, Stasi-Vorwürfe begleiten ihn seit Jahrzehnten, konnten aber nie gerichtsfest bewiesen werden. Als Angehöriger der Volkskammer stimmte er 1990 gegen die Wiedervereinigung.
Dass Gysi überhaupt Alterspräsident werden konnte, geht auf eine Regeländerung von 2017 zurück. Damals entschied der Bundestag, dass fortan nicht mehr der älteste Abgeordnete Alterspräsident sein sollte, sondern der mit den meisten Dienstjahren im Bundestag. Ein Manöver, mit dem verhindert werden sollte, dass AfD-Mann Alexander Gauland die Sitzungsleitung übernimmt. Die Sorge war, dass eine Situation entstehen könnte, wie sie im vergangenen Jahr in Thüringen Wirklichkeit wurde. Dort entzog der AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler Abgeordneten zum Teil willkürlich das Wort und verhinderte Abstimmungen. Am Ende musste das Landesverfassungsgericht eingreifen.
Julia Klöckner erhält nur ein mageres Ergebnis
Die AfD versucht am Dienstag noch einmal mit einem Antrag, die Regeländerung zurückzudrehen und damit Alexander Gauland als Alterspräsident zu installieren – ohne Erfolg. Aber die Fraktion braucht auch gar keinen Alterspräsidenten, um im neu gewählten Bundestag Stärke zu demonstrieren. Ihre Größe hat sie mit der Bundestagswahl verdoppelt, sie stellt jetzt fast ein Viertel der Abgeordneten. Ihre Zwischenrufe sind nun häufiger, das höhnische Lachen lauter, der Selbstapplaus auch. Für die anderen Abgeordneten wird es sichtlich schwieriger, dagegen anzureden. Es ist ein Vorgeschmack auf das, was in dieser Legislatur auf die Abgeordneten zukommt.
Denn die Mitte ist sichtlich zusammengeschrumpft. Das zeigt sich auch bei dem wohl wichtigsten Tagesordnungspunkt dieses Tages, der Wahl des Bundestagspräsidenten. CDU-Frau Julia Klöckner erhielt 61 Prozent der Stimmen und schnitt damit deutlich schlechter ab als ihre Vorgängerin Bärbel Bas (SPD), die 80 Prozent erhalten hatte. CDU-Ikone Wolfgang Schäuble konnte 2017 bei seiner Wahl zum Parlamentspräsidenten 71 Prozent der Abgeordneten von sich überzeugen. Die vorgeschlagenen Stellvertretungen und Stellvertreter wurden mit ebenso mageren Ergebnissen ins Amt gewählt, mit Ausnahme des AfD-Kandidaten, der auch in diesem Jahr durchfiel. In ihrer anschließenden Rede warb Klöckner dann trotz der starken Ränder für mehr Hoffnung. „Optimismus und Zuversicht - dieser Ruck muss wieder durch unser Land gehen“, sagte sie. Und mahnte: „Die Bürgerinnen und Bürger, die erwarten von uns, dass wir ihre Probleme und Sorgen angehen. Sie wollen konsequente Reformen, auch in der Politik selbst.“
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