Siegen ist nicht nur schön, sondern auch anstrengend. Nach seinem Satz auf 136,5 Meter und dem Gewinn des Auftaktspringens der Vierschanzentournee 2020/2021 hallten die Jubelschreie von Karl Geiger und seines Teamkollegen Markus Eisenbichler durch das leere Stadion am Schattenberg.
Nach der Siegerehrung am Dienstagabend folgte der Interviewmarathon bei Fernsehen, Radio und schließlich den schreibenden Journalisten, zumindest per Online-Schalte. Das dauerte. Erst um 21 Uhr bekam der Oberstdorfer sein Abendessen im Mannschaftshotel serviert. Den Moment mit der Familie zu genießen, dafür blieb keine Zeit. „Wir haben geschrieben, denn ich habe nicht so viel Zeit gehabt“, erzählt der Gewinner am Morgen nach dem ersten deutschen Tournee-Einzelsieg seit Dezember 2015.
Am Mittwoch staunte der 27-Jährige immer noch ein wenig über sich selbst. „Es ist unglaublich, was da passiert ist. Es war echt kein einfacher Wettkampf, aber spannend bis zum Schluss“, blickte er auf den Glücksmoment. Geiger blieb zumindest Zeit, sich an seine Kindheit zu erinnern, in der er genau von so einem Tag geträumt hatte. Auf Facebook schrieb er: „Als kleiner Junge stand ich unten an der Schanze und bewunderte die Springer während der Tournee.
Bei der WM 2005 durfte ich als Fahnenkind dabei sein.“ Damals sei es auch in Ordnung gewesen, „die Fahne aus Kasachstan zu tragen, obwohl man viel lieber die deutsche gehabt hätte“. Für seine Verhältnisse gibt der Allgäuer, der sonst nicht gerne über sein Privatleben und seine Gefühle spricht, einen tiefen Einblick in seine Gefühlslage. „Und nun steh ich hier und gewinne in diesem Stadion ... Zu Hause! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl! Ein Heimsieg, den ich mir immer erträumt habe“, erzählte der Oberstdorfer in den sozialen Netzwerken weiter.

Am Vormittag ging es mit dem Auto nach Waltenhofen bei Kempten, wo der nächste Covid-19-Test anstand. Anschließend fuhr die Mannschaft nach Garmisch-Partenkirchen, wo am Donnerstag die Qualifikation (14 Uhr/live in ARD und Eurosport) und an Neujahr (14 Uhr/ARD und Eurosport) der zweite Wettbewerb anstehen.
Am Nachmittag hatte Bundestrainer Stefan Horngacher ein Krafttraining angesetzt, ansonsten galt es, neue Energie zu sammeln. Die Tournee mit vier Springen innerhalb von neun Tagen geht an die Substanz der dünnen Männer in ihren viel zu weiten Anzügen. Emotional war der Heimsieg das Größte für Geiger. Sportlich kann der im Gegensatz zu seinem extrovertierten Teamkollegen Markus Eisenbichler stets kontrolliert wirkende Allgäuer den Erfolg einsortieren: „Es ist erst ein von vier Springen absolviert. Man muss fokussiert bleiben und braucht ein wenig Glück mit den Bedingungen an jedem Tag.“
Karl Geiger: "Er war der Ruhigste und Klarste"
Horngacher freute sich mit seinem Sieger und dem fünftplatzierten Eisenbichler, doch ansonsten wartet auf den Bundestrainer viel Arbeit: „Der Anschluss der anderen Leute war ziemlich schwach. Ich habe nicht die Sprünge gesehen, die sie eigentlich können.“ In Einzelgesprächen wollte der gebürtige Österreicher den Rest des Teams aufbauen und machte Severin Freund (25.), Pius Paschke (33.), Constantin Schmid (36.), David Siegel (38.) oder Richard Freitag (41.) Mut: „Die Garmischer Schanze liegt uns besser als die Oberstdorfer.“
Auch Horngachers Vorgänger Werner Schuster blickt bereits auf das Neujahrsspringen voraus. Er sieht einen heißen Fight auf Karl Geiger zukommen. „Die Führung wird noch ein paarmal hin- und herwechseln“, so der gebürtige Kleinwalsertaler. Er traut Karl Geiger durchaus den Gesamtsieg zu („Das Zeug dazu hat er.“), glaubt aber an vier, eher fünf hochkarätige Konkurrenten: den Norweger Granerud („Kann’s noch besser als in Oberstdorf“), Kamil Stoch („Seine Top-Schanzen kommen noch“), Stefan Kraft („wenn er Garmisch übersteht, gehört er zu den Mitfavoriten“) und Markus Eisenbichler. Dem Siegsdorfer bescheinigt Schuster: „Sprungtechnisch ist er noch einen i-Tupfen stärker als der Karl, aber mental noch nicht so stabil“.

Dass Geiger den Auftakt für sich entscheiden konnte, überrascht den Österreicher nicht: „Schon am hektischen Quali-Tag war er der Ruhigste und Klarste.“ Geiger habe sich nicht aufgeregt übers Wetter, sondern sei froh gewesen, überhaupt springen zu dürfen. „Und er wusste, was er zu tun hatte: nämlich zwei konstante Sprünge runterzubringen.“ Schuster nennt Geiger ein Musterbeispiel für eine permanente Weiterentwicklung, der eine große Leidenschaft mitbringe und hart und konsequent arbeitet: „Der Karl ist nicht als Siegertyp geboren. Er ist zum Siegertyp geworden.“ Für den jungen Familienvater gehe es jetzt darum, das Leben in Balance zu halten und seine Energie im richtigen Moment in den Sport zu stecken. „Dann kann er was abholen – auch den Gesamtsieg bei der Tournee.“