
Sie drehen ihre Runden, zaubern Pirouetten in die Luft – ziehen wortwörtlich ihre Kreise auf dem Eis. Ein Dutzend Eiskunstlauf-Talente tummelt sich auf der Fläche im Oberstdorfer Eissportzentrum. Die Weltmeister von morgen. Flankiert von halb so vielen Trainern, die beobachten, korrigieren, loben, tadeln. EC-Oberstdorf-Präsident Harald Löffler dreht seine Runde, begrüßt Trainer per Handschlag. Sogar der „Stadion-DJ“ ist an diesem Tag prominent. Aljona Savchenko, Paarlauf-Olympia-Siegerin in Pyeongchang, ist als Trainerin gebucht und steuert die Hallen-Musik. Es ist ein gewöhnlicher Freitag im Trainingsbetrieb. Und doch hat sich die Bedeutung von gewöhnlich gewandelt im einzigen Bundesstützpunkt, den es in Bayern gibt. Der mutmaßliche Skandal liegt wie ein Schatten auf dem hochdekorierten Klub. Die Missbrauchs-Affäre. Oder die Fajfr-Affäre? Oder die Droysen-Affäre?
Ein Besuch bei der Talentschmiede einen Monat nach den ersten öffentlichen Vorwürfen des 19-jährigen ehemaligen Bundeskader-Athleten Isaak Droysen, in denen er Trainer Karel Fajfr beschuldigt, ihn in Oberstdorf über Jahre körperlich und seelisch missbraucht zu haben. Drei Wochen, nachdem die Polizei zu ermitteln begonnen hat. Und eine Woche, nachdem Droysen und Fajfr ihren Positionen Nachdruck verliehen haben. „Es beschäftigt die Menschen sehr stark“, sagt ECO-Boss Harald Löffler mit leicht gesenktem Haupt. Der 73-Jährige leitet seit nunmehr zehn Jahren die Geschicke eines der renommiertesten Klubs der Welt. „Ich kann die Vorwürfe schwer beurteilen, da ich nicht bei jedem Training anwesend bin“, schiebt Löffler nach. „Mir ist nie etwas aufgefallen, das die Vorwürfe belegt. Der Verein kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass nichts unter den Teppich gekehrt worden ist. Uns sind keine Meldungen von Kindern, Jugendlichen, Eltern oder Trainern angetragen worden.“

Der Redaktion liegen – in einem Schreiben von Fajfrs Anwälten angefügt – ein halbes Dutzend Briefe vor, in denen Eltern und aktive Sportler zu Fajfrs tadellosem Verhalten Stellung beziehen. So auch Christiane Gertscher-Mayer, die wir in Oberstdorf treffen. Die ECO-Obfrau für Eiskunstlauf schlägt in die gleiche Kerbe. „Meine Tochter hat bei Fajfr in Gruppenstunden trainiert, und wir alle kannten die Vorgeschichte – und haben die Stunden genau verfolgt. Aber mir ist nichts Negatives aufgefallen“, sagt Gertscher-Mayer. Mitte der 1990er Jahre war Fajfr vom Landgericht Stuttgart wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen, sexuellen Missbrauchs in elf Fällen und Körperverletzung in zwei Fällen zu einem dreijährigen Berufsverbot verurteilt worden. Hernach erhielt er auf Anfrage einer Sportlerin ab 2003 wieder Eiszeit in Oberstdorf. Gertscher-Mayer ergänzt mit Blick auf das Verhalten Droysens: „Auf mich hat Isaak zu keiner Zeit einen auffälligen Eindruck, sondern den eines lebensfrohen jungen Menschen gemacht.“
Noch mehr Gewicht verleiht diesen Eindrücken eine Aussage von Marcello Geßner. Der ehemalige Trainingspartner von Droysen zeigt sich empört über die Vorwürfe und will Droysens Aussagen widersprechen. „Ich stand mit Isaak fast täglich auf dem Eis. Dass er vor Angst am Körper zitterte und ein verstörtes Verhalten zeigte, konnte ich nicht feststellen“, sagt Geßner und fügt an: „Zu keinem Zeitpunkt gab es körperliche Übergriffe.“
Jahrelange Weggefährten Fajfrs brechen eine Lanze für den Coach. An der Bande steht an diesem Tag auch Daniel Wende. Der 35-jährige, titelgeschmückte Eiskunstläufer, ist ebenfalls Trainer am Stützpunkt und kam 2008 nach Oberstdorf, um mit Partnerin Maylin Wende (ehemals Hausch) seine Paarlaufkarriere fortzusetzen. „Wir haben ihn bewusst als Trainer gewählt, weil wir von seinen Qualitäten überzeugt waren“, erzählt Wende. „Er hat das Beste aus uns rausgeholt und uns zu den größten Erfolgen verholfen. Wir sind dankbar – als Aktive und auch als Coaches.“

Das Ehepaar wurde Olympia-17. in Vancouver und Achte in Sotschi. Mit Blick auf den mutmaßlichen Missbrauch stellt Wende klar: „Ich habe ihn als sehr motivierten Coach kennengelernt – man spürt, dass er 24 Stunden dafür lebt, wie man Athleten besser machen kann. Das habe ich in dieser Intensität noch nie erlebt“, sagt der vierfache deutsche Meister. In den öffentlichen Stellungnahmen spricht auch die Mutter von Maylin Wende, Cornelia Hausch, von Fajfr als „gutem Trainer ohne Fehl und Tadel“. Ihr Schwiegersohn betont, er habe nie „körperlichen oder psychischen Missbrauch, oder etwas in dieser Richtung gesehen. Und ich habe Isaak oft trainieren sehen. Trotzdem wollen wir Klarheit.“
Denn Fajfr ist noch aktiv. Wenige Stunden vor diesen Gesprächen war der 75-jährige Coach noch auf ebendiesem Eis gestanden. „Er trainiert noch, ja. Der Zulauf der Kinder über ihre Eltern ist bis zum heutigen Tag stark. Fajfr ist ein hoch angesehener Trainer“, sagt Harald Löffler. Gleichwohl betont der Präsident, Fajfr war „nie Mitglied beim EC Oberstdorf und hat auch keine Anstellung“. Das unterstreicht auch Hans-Peter Jokschat, Leiter der Sportstätten in Oberstdorf. „Fajfr ist freiberuflicher Trainer. Ein Vertragsverhältnis mit ihm besteht und bestand zu keinem Zeitpunkt“, sagt Jokschat, der seit 2000 in dem Amt ist. „Aufgabe des Eislaufzentrums ist es, Sportanlagen für die Trainings der Eisläufer und Sportler zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich um eine öffentliche Einrichtung, die jeder im Rahmen der Öffnungszeiten benutzen kann.“ Dabei spielt die angesprochene räumliche Dimension eine zentrale Rolle.
In seiner ersten Stellungnahme – darüber hinaus wollte sich der 75-Jährige nicht äußern – hatte Fajfr betont, die Trainer „arbeiten quasi auf dem Präsentierteller“. Der Tag im Eissportzentrum untermauert dieses Bild. 18 Protagonisten auf dem Eis, beinahe genauso viele Betreuer außerhalb der Fläche, unzählige Eltern, andere Athleten auf der Tribüne sehen die Einheiten. „Die Halle ist für alle zugänglich – ich kann mich kaum an Situationen erinnern, bei denen man isoliert nur mit dem Schüler zusammen ist“, sagt Daniel Wende. „Trainer sind in aller Regel räumlich von den Schülern getrennt – ich gehe niemals in die Athletenkabine. Wir haben eigene Trainerkabinen, und da hat die Tür immer offen zu stehen. Das schätzen die Leute – Oberstdorf ist eine begehrte Station.“
Dieses Ansehen haben sich ECO und Sportstätten über Jahrzehnte erworben. Dass die Affäre um Isaak Droysen und Karel Fajfr unabhängig von ihrem Ausgang dieser Reputation schaden kann, fürchtet Hans-Peter Jokschat. „Allein durch die Berichterstattung sehe ich schon jetzt einen Imageschaden für unser Eissportzentrum. Meine Hoffnung ist, dass – mit Blick auf das Wohlergehen der Sportler wie auch auf die Förderungen – alles restlos aufgeklärt wird“, sagt der Sportstättenleiter. Und Harald Löffler ergänzt: „Der Verein und ich erwarten, dass der Sachverhalt aufgeklärt wird und wieder Ruhe einkehrt. Im Sinne unseres Vereins, der Eltern, der Trainer – und der Sportler.“ In seinem Rücken drehen diese weiter ihre Kreise. An einem für sie ganz gewöhnlichen Trainingstag.