Als sie ihre Sternstunde noch einmal vor Augen geführt bekam, gab es kein Halten mehr. Dicke Tränen kullerten Selina Jörgs Wangen hinunter. Über die Leinwand im Sonthofer Stadtrat flimmerte der Silberlauf der 30-Jährigen bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang. Zu intensiv waren die Momente, die sie in Südkorea erlebt hatte. Zu herzlich war der Empfang in ihrer Heimatstadt Sonthofen wenige Minuten zuvor.
Dabei hat der mehrfachen deutschen Meisterin gewiss nicht die Kälte von minus 13 Grad die Tränen in die Augen getrieben. Begleitet von ihren Eltern Inge und Willi sowie ihrem Freund Martin präsentierte „Silber-Selina“ ihre Medaille stolz dem SC Sonthofen, alten Weggefährten – und sogar ihrer ersten Trainerin beim SC, Sabine Spechtl. Nach der Zeremonie auf dem Roten Teppich im Rathaus sprachen wir mit Selina Jörg über besondere Momente bei Olympia, das anstehende Saisonfinale und ihre Zukunftspläne.
Selina nur 18 Stunden nach dem Empfang in Oberstdorf hattest Du nun in Sonthofen Deine große Bühne. Wie schön war die Begrüßung?
Selina Jörg: Es war sehr besonders. Sonthofen ist meine Heimatstadt, und wenn so viele Leute kommen, vom Skiclub, alte Freunde, mit denen ich die ersten Schwünge gemacht habe – das ist sehr speziell.
Und tränenreich. Warum war der Empfang für Dich so emotional?
Jörg: Zuallererst sind es all die Gesichter, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Und den letzten Lauf und die Siegerehrung mal in Ruhe zu sehen, hat mich berührt. Dazu hatte ich die Ruhe noch nicht.
Kannst Du mit einigen Tagen Distanz begreifen, was Du geschafft hast?
Jörg: Es ist so eine große Last von mir gefallen, endlich diese Medaille zu haben. Seit dem Rennen sind so viele Dinge auf mich geprasst, dass ich es noch nicht fassen kann. Man kommt einfach nicht zur Ruhe.

Die vergangenen Tage scheinen ein rechter Spießrutenlauf gewesen zu sein…
Jörg: Na ja, es ist unglaublich, was da passiert. Wir Snowboarder sind so einen Rummel ja nicht gewohnt. Die Interviews in der Mixed Zone in unterschiedlichen Sprachen, Pressetermine, Dopingkontrollen. Ich hatte einige Nächte, in denen ich nur zwei, drei Stunden geschlafen habe. Aber an sich ist es wunderbar für uns, dass das Interesse nach so einem Erfolg so groß ist.
Wenn Du an Olympia zurückdenkst – wie schwer war es, so lange auszuharren, bis Du dran warst?
Jörg: Dass wir am vorletzten Tag starten, ist nicht ungewöhnlich. Aber dass auch die Quali noch einmal verschoben wurde, war schon brutal für den Kopf. Wir mussten immer die Spannung hochhalten – das war eine echte Geduldsprobe bis zum großen Moment.
Den Du Dir endlich versilberst hast. Viele haben von „verdientem Silber“ oder vom „Lohn für jahrelange Arbeit“ gesprochen. Wie fühlt es sich an?
Jörg: Es waren unfassbare Momente für mein ganzes Leben. Seit ich in Vancouver Vierte geworden bin, ist mir der Gedanke an eine Medaille nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Man quält sich im Sommer so sehr für diese Momente, und dann weiß man, dass alles vergessen ist. Das entschädigt für alles.
Gute Laune pur! Selinas Vlog aus Pyeongchang siehst Du hier.
Welche Erinnerungen hast Du an den Renntag?
Jörg: Puh, es war ein Tag voller Emotionen. Wir mussten schon früh morgens ins Skigebiet fahren und ich habe schon auf dem Weg dahin so viele Nachrichten bekommen. Ich habe früh gespürt, dass es ein Tag sein könnte, an dem etwas wirklich Besonderes klappen kann.
Das war Dir ja schon im Halbfinale gelungen, als Du Silber sicher hattest. Was ging Dir da durch den Kopf?
Jörg: Richtig. Ich wusste, dass ich im olympischen Finale bin und dass mir das niemand mehr nehmen kann – da sind alle Dämme gebrochen.
War das Dein schönster Moment?
Jörg: Ja, und als ich ins Ziel gekommen bin. Als mich Ramona (Hofmeister) quasi schon mit Bronze um den Hals empfangen hat. Es ist so schön, so etwas mit einer Teamkollegin teilen und erleben zu können.
Das alles musst Du jetzt aber hinter Dir lassen. Wie geht es nun weiter?
Jörg: Wir starten schon heute in Richtung Türkei, wo der Weltcup in Kayseri ansteht. Danach geht es weiter in die Schweiz, und am Ende steht zum Finale der Heimweltcup in Winterberg an. Danach erst werde ich Zeit haben, alles sacken zu lassen. Und Ruhe zu haben.
Sicher hast Du Dir über Deine Zukunft Gedanken gemacht. Hast Du in den Sekunden nach dem olympischen Finale an Rücktritt gedacht?
Jörg: Man sagt ja oft, dass man in den schönsten Momenten aufhören soll. Natürlich überlegt man kurz. Sicher ist: Ein viertes Mal Olympia wird es für mich nicht geben.
Und wie sieht es für den Herbst aus?
Jörg: Das weiß ich nicht. Diese Saison läuft so gut, und es hat mit dem Team so großen Spaß gemacht – ich weiß es einfach nicht. Ab März habe ich Zeit – auch, um mir darüber Gedanken zu machen.