Vinzenz Geiger, Sie starten an diesem Wochenende im finnischen Ruka in Ihre achte Weltcup-Saison seit 2015 – erstmals als amtierender Olympiasieger. Geht man da mit einer anderen Einstellung in den Winter?
Vinzenz Geiger: Nein, die Vorbereitung lief wie immer. Und mein Gefühl ist genau gleich wie in den Vorjahren. Ich freue mich, dass es jetzt endlich los geht. Irgendwann reicht’s auch mal mit dem Training. Man will endlich zeigen und wissen, wo man eigentlich steht.
Training im Schnee war wegen der warmen Temperaturen aber nicht so oft möglich, oder?
Geiger: Wir haben heuer in der Vorbereitung ein bisschen was geändert. Sprungtrainer Heinz Kuttin hatte mit den Österreichern schon mal gute Erfahrungen gemacht, den Akku kurz vor der Saison noch einmal in der Sonne aufzutanken. Deshalb waren wir statt im Schnee fünf Tage auf Zypern.
Aber da gibt’s doch gar keine Schanze ...
Geiger: Stimmt. Aber der Fokus lag auch auf Kraft- und Koordinationstraining und ein paar Roller-Einheiten im Trodoos-Gebirge. Es war kein knüppelhartes Trainingslager, wie man es im Juni oder Juli machen würde. Energietanken war schon auch angesagt.
Es ging jetzt aber nicht vom Strand in Zypern direkt an den Polarkreis nach Finnland, oder?
Geiger: Nein, wir haben in Oberstdorf auf der Eisspur schon noch ein paar gute Trainingseinheiten absolviert und das Material noch einmal getestet. Und nach Davos ging’s noch zum Langlaufen, weil wir vor Zypern nur einmal in der Skihalle waren. Wir hatten Top-Bedingungen in der Schweiz und konnten wirklich gut trainieren. Es kann also losgehen.
In Ruka standen Sie die letzten Jahre regelmäßig auf dem Podest...
Geiger: Richtig. Ich bin sehr gerne dort. Die Schanze ist schwer zu springen. Heuer sind die Wettkämpfe ein bisschen sprunglastig, weil einmal nur fünf Kilometer gelaufen wird und einmal ein Massenstart ansteht. Das kommt mir und den guten Läufern eigentlich nicht so entgegen. Aber dieses erste Wochenende gehört für mich nicht unbedingt zu den Saison-Höhepunkten.
Sondern?
Geiger: Ganz klar die Weltmeisterschaft, die Ende Februar in Planica stattfindet. Das ist ein super cooler Ort.
Ähnlich cool wie dieses Zhangjiakou in der Nähe von Peking, oder? Spaß beiseite, aber ein Versuch, mit Ihnen noch einmal über die Spiele in China zu sprechen. Hat das widrige Drumherum Ihren großen Erfolg geschmälert?
Geiger: Das ist mir während der Spiele ziemlich oft durch den Kopf gegangen. Pyeongchang 2018 war ja heilig im Vergleich zu China. Deshalb hat mich das in Peking schon immer wieder mal geärgert. Die Tage dort waren einfach nicht schön, ich konnte das nicht so genießen wie beispielsweise die WM 2019 in Seefeld, bei der richtig viele Zuschauer Stimmung gemacht haben und auch unsere Familien dabeisein konnten. So etwas ist natürlich ein ganz anderes Erlebnis. Aber im Nachhinein bin ich auch so ehrlich und sag: Ich hab diesen Olympiasieg in der Tasche. Und das Ansehen dieser Goldmedaille hat in der Außenwirkung keine Kratzer dadurch bekommen, dass ich sie in China gewonnen habe. Es wird das Highlight meiner Karriere bleiben.
Wie lange hat es denn gedauert, bis die Goldmedaille verdaut und das Geschehene realisiert war?
Geiger: So lang hat es gar nicht gedauert, um zu kapieren, was da im Februar in China passiert ist. Schwierig ist ja eher, sich vorzustellen, was auf einen zukommt. Aber allzu viel hat sich aus meiner Sicht nicht geändert. Der große Unterschied zu früher ist nur: Ich werde draußen deutlich öfter erkannt und explizit angesprochen.
Worauf?
Geiger: Ganz viele Leute wollen wissen: Wie genau hat das mit dem Zielsprint funktioniert? Und ganz viele machen mir einfach nur nette Komplimente und teilen mir mit, wie beeindruckend dieses Einzelrennen war. Das freut mich natürlich. Und ja: Ich empfinde es als ausschließlich angenehm.
Also, dann erklären Sie doch bitte auch uns noch einmal, wie das mit dem Zielsprint funktioniert hat?
Geiger: Für mich war das ganze Langlaufrennen gefühlt ein Sprint. Ich habe alles rausgehaut, was in mir steckte. Dass es am Schluss dann noch so gut geht und ich mich davor anscheinend nicht übernommen hatte, war schon auch für mich erstaunlich.
Wir denken ja gern in Bildern. Läuft bei Ihnen im Kopf der Film vom letzten halben Kilometer eigentlich in einer Art Dauerschleife? Und was löst das für Gefühle aus?
Geiger: Klar, mich erfüllen die Gedanken an diesen 9. Februar natürlich immer noch mit großem Stolz. Aber dass da einzelne Sequenzen aus diesem Rennen vor meinem Auge ablaufen, das passiert so gut wie nie. Ab und zu sehe ich natürlich die TV-Bilder, aber dieses Video ist irgendwo so ganz anders, als ich das Rennen erlebt habe.
Nämlich?
Geiger: Ich habe den Kopf ausgeschalten. Ich musste ihn ausschalten. Deshalb erinner’ ich mich nicht nur an die letzte Minute, sondern eher sehr komprimiert an das ganze Langlauf-Rennen.
Lassen Sie uns teilhaben an diesen Gedanken...
Geiger: Das ist ganz simpel. Es ist Olympia. Ich vergeige das Skispringen. Hab nichts mehr zu verlieren und sag mir vor dem 10-Kilometer-Langlauf: Jetzt muss ich einfach Vollgas geben.
Wie hoch war das Risiko, in diesem Olympischen Rennen total einzubrechen?
Geiger: Es war groß. Sehr groß. Ich glaube, einen normalen Weltcup wäre ich so nicht angegangen. Aber ich wusste natürlich, bei Olympia zählen nur die Medaillen. Deshalb war es mir nach dem Springen vollkommen egal, eventuell auch voll abzuloosen und nur auf Platz 25 zu kommen.
Sie sind als Elfter mit fast anderthalb Minuten Rückstand in die Loipe gegangen...
Geiger: Es lief richtig schlecht. Ich hatte den Wettkampf eigentlich schon abgehakt. Der Sprung war wirklich nicht gut, der Rückstand in der Loipe auf die Besten einfach zu groß. Während des Rennens hab ich dann irgendwann mal schon auf die Bronzemedaille geschielt. Je länger das Rennen andauerte, desto mehr hab ich mich mental daran festgebissen, noch nach vorn zu kommen.
Welche Rolle spielte es, dass da ganz vorn ihr Klubkollege Johannes Rydzek der Goldmedaille entgegenlief?
Geiger: Ich muss ehrlich sagen, ich habe das überhaupt nicht wahrgenommen. Ich bin einfach gelaufen. Auch die taktischen Anweisungen der Trainer und Betreuer war darauf abgezielt, den Österreicher Lukas Greiderer einzuholen. Dann bin ich an Greiderer vorbei und hab nach dem letzten Anstieg plötzlich gemerkt, das könnte ja auch noch für Gold reichen. Ich hatte ein sehr hohes Tempo und hatte dann nur noch die Ziellinie im Fokus. Erst als ich im Ziel war, habe ich gemerkt, dass ich Erster bin – und den Johannes auch noch überholt habe.
In vielen anderen Sportarten wäre das undenkbar, einem Teamkollegen den Sieg vor der Nase wegzuschnappen. Beim Radsport hätten Sie vermutlich die Order bekommen, das Tempo aus dem Rennen zu nehmen und erst mal die Goldmedaille von Johannes Rydzek abzusichern...
Geiger: Klar, er hat mir dann schon leid getan. Dass es für ihn nach dieser krassen Leistung zu keiner Medaille mehr gereicht hat, war schon bitter. Ich hab aus der Situation heraus alles gegeben – und ja, mir war alles andere in dem Moment auch egal.
Wäre es im Nachhinein denkbar gewesen, sich hinter Rydzek einzureihen und Gold und Silber zu holen.
Geiger: Nein, so funktioniert unser Sport nicht. Dann hätten wir im schlimmsten Fall Gold hergeschenkt. Ich bin mir sicher, dass Johannes auch gerne gewonnen hätte. Aber er hat mir glaub nicht übel genommen, dass ich mit dieser Laufform an ihm vorbeigezogen bin. Er hat es gut aufgenommen und sich mit mir gefreut.
Gar kein schlechtes Gewissen?
Geiger: Nein. So ist der Sport nun mal, gerade im Einzel. Jeder kämpft für sich. Und Johannes hätte es bestimmt nicht anders gemacht.
Als Olympiasieger haben Sie neue Sponsoren gewinnen können, sind Heimatbotschafter für Bayern geworden und haben auf Instagram Fotos gepostet von Urlauben und Einladungen im Süden. Ist Ihr Leben nach dem Olympia-Gold etwas süßer geworden?
Geiger: Ja ein bisschen schon. Ich durfte Dinge erleben, die nur die allerwenigsten erleben dürfen. Ich erfahre da jetzt schon eine Wertschätzung, die ich vorher nicht kannte. Aber ich war auch davor privat immer sehr glücklich, brauche solche Einladungen und Sonderbehandlungen nicht unbedingt. Und ich bin einfach froh, dass mich privat die meisten Menschen in meinem Umfeld immer noch so behandeln wie vor dem Olympiasieg. Es gibt noch genügend Menschen im Familien- und Freundeskreis, die mich immer wieder erden.
Denkt man als Olympiasieger daran, wie sich so ein Erfolg auch finanziell vergolden ließe?
Geiger: Es wäre komisch, wenn ich nicht so denken würde. Natürlich will man als Profisportler auch was verdienen – zumal man diesen Sport, wenn’s gut geht, eh nur maximal zehn Jahre machen kann. Und es kommt nicht jedes Jahr so viel rüber wie im vergangenen.
Eine Agentur in Oberstdorf sucht neue Geldgeber für Sie...
Geiger: Ja, aber ich nehme nicht jedes Sponsoring an, weil es auch zu mir passen muss. Und ich will auch keine laufende Litfaßsäule sein. Aber es gibt auch Partnerschaften, die ich sehr gerne eingehe und wo es Spaß macht, ein Unternehmen bei Kundenveranstaltungen zu repräsentieren oder Werbung für sie zu machen.
Könnte das Olympia-Gold auch nach Ihrer aktiven Laufbahn Türen öffnen?
Geiger: Ich mache mir noch keine konkreten Gedanken, wie das nach meiner Karriere mal wird. Aber ich möchte nicht an einen Job kommen, weil ich Olympiasieger bin, sondern weil ich selbst was auf dem Kasten habe. Dass man es vielleicht mit so einem Titel leichter hat – ja, das ist sicher so.
Was würde Sie beruflich reizen?
Geiger: Ich studiere ja nebenher BWL. Wirtschaft ist schon etwas, was mich sehr interessiert. Da könnte ich mir schon vorstellen, mal bei der Baufirma Geiger einzusteigen. Oder bei meinem Vater, der Geschäftsführer von Geiger Kanaltechnik ist. Da hab ich sicher Möglichkeiten. Aber das alles ist erst spruchreif, wenn ich auch das Studium fertig habe.
Am 18. Dezember findet in Baden-Baden die Wahl zum Sportler des Jahres statt. Haben Sie da schon was vor?
Geiger: Der Termin ist geblockt. Es ist für mich eine Riesenehre, dass ich nominiert bin. 2018, als ich zum Newcomer des Jahres ausgezeichnet wurde, war es schon eine richtig coole Veranstaltung. Dass ich mit Gold und Silber bei Olympia zum Favoritenkreis gehöre, ist ja nur logisch. Aber ob ich Topfavorit bin, weiß ich nicht. Das sollen andere entscheiden. Interview: Thomas Weiß