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Vor 20 Jahren: Skurrile "Geister-Affäre" um Allgäuer Ski-Langlaufstar

allgaeu.life mystery (IV)

Vor 20 Jahren: Skurrile "Geister-Affäre" um Allgäuer Ski-Langlaufstar

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    Johann Mühlegg (rechts) vertraute viele Jahre auf Hilfe der portugiesischen Wunderheilerin Juanita Agostinho. Links ihr Ehemann.
    Johann Mühlegg (rechts) vertraute viele Jahre auf Hilfe der portugiesischen Wunderheilerin Juanita Agostinho. Links ihr Ehemann. Foto: Frank Mächler, dpa

    Er steigerte sich, in dem er sich reinsteigerte. Vielleicht lag darin der eigentliche Grund für die Tragödie im Fall von Johann Mühlegg. Der Allgäuer galt als ein Arbeitsmonster in der Loipe, "lief vormittags 60 Kilometer und wollte nachmittags dann richtig trainieren", wie sich sein alter Weggefährte Jochen Behle erinnert.

    Durch die Mischung aus extremer Härte und großer Begabung macht er in jungen Jahren schnell von sich reden. 1989 und 1990 holt er jeweils den Weltmeister-Titel der Junioren. Mit dem Übertritt zu den Erwachsenen wird der Siegeszug - wie häufig im Ski-Langlauf - erst einmal ausgebremst.

    Prompt beginnt 1993 mit dem damaligen Bundestrainer ein Streit, der immer weitere Kreise zieht - und schließlich als "Spiritisten-Affäre" Einzug in die Sportgeschichte hält. Mühlegg wirft dem Bundestrainer indirekt vor, seine Elektrolyt-Getränke zu "besprechen." Ihm werde davon übel, er müsse sich übergeben und sei am nächsten Tag todmüde.

    Bei seiner mysteriösen These beruft sich Mühlegg auf eine angebliche Wunderheilerin: die portugiesische Putzfrau Justina Agostinho. Sie lebt mit ihrem Mann in München und behauptet, dass der Heilige Geist durch sie spreche. Ihre Anhänger bezeichnen sie deshalb als "Gnade". Literweise trinken sie ihr geweihtes Leitungswasser. Auch Mühlegg, der es gegen Magenschmerzen einsetzt. Immer wieder klagte er zuvor darüber, dass ihm "ein Spiritist einen Schaden gesetzt" und ihn "negativ beeinflusst" haben soll.

    Als einen der wenigen Journalisten ließ die Wunderheilerin 1994 den AZ-Reporter Freddy Schissler in ihre Wohnung. Was er dort erlebte und welche Folgen seine kritische Berichterstattung hatte, erzählt er im "allgaeu.life mystery"-Video.

    Johann Mühlegg auf dem Höhepunkt seiner Karriere: 2001 wurde er Weltmeister über 50 Kilometer.
    Johann Mühlegg auf dem Höhepunkt seiner Karriere: 2001 wurde er Weltmeister über 50 Kilometer. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Als Ursache für die Leiden von Johann Mühlegg benennt Agostinho einen Mann aus dem Trainingsumfeld - und zwar den Bundestrainer. Um sich vor seinem Bannstrahl zu schützen, reist Mühlegg fortan mit Kanistern voller geweihtem Wasser zu den Wettkämpfen.

    Obwohl er nichts beweisen kann, schießt er weiter gegen den Bundestrainer. Schließlich wird er vom DSV aus dem Kader geworfen.

    Doch den Wahnvorstellungen tut dies keinen Abbruch.

    Seine Ehe zerbricht 1995, nachdem er seine Frau als "Spitzel" des DSV beschimpfte, wie sie einer Boulevardzeitung erzählt: "Zuerst habe ich über Johanns Geister gelacht. Ich dachte, es wäre wie bei anderen eine Art Maskottchen", beschreibt sie in der Bild -Zeitung eine zunehmend gespenstische Atmosphäre: "Wochenlang durfte ich mit keinem Menschen reden, ich lebte wie in einer anderen Welt."

    Ihr Ex-Mann bleibt nach der Trennung weiter in dieser gefangen.

    Nachdem er zwischenzeitlich wieder zum Nationalteam gehören darf, wird er 1998 endgültig ausgeschlossen.

    Beim Ski-Trail im Tannheimer Tal präsentierte Johann Mühlegg 2005 seine Autobiografie: "Allein gegen Alle."
    Beim Ski-Trail im Tannheimer Tal präsentierte Johann Mühlegg 2005 seine Autobiografie: "Allein gegen Alle." Foto: Ralf Lienert

    Mühlegg, der weiterhin Wunderheilerin Agostinho vertraut, tritt daraufhin für Spanien an. Er will es allen zeigen, sich sportlich unsterblich machen. 1999/2000 gewinnt er den Gesamt-Weltcup; 2001 wird er im finnischen Lahti Weltmeister über 50 Kilometer. Vom Besessenen zum Besten, vom Außenseiter zum "Allgäu-Torero": Juanito, wie ihn die Spanier nennen, ist am Gipfel angekommen.

    Doch schon ein Jahr später stürzt er bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City ins Bodenlose. Der Getriebene steht im Mittelpunkt einer der größten Dopingskandale aller Zeiten. Nach drei Gold-Medaillen überführt ihn eine unangemeldete Trainingskontrolle als Dopingsünder.

    Mehr noch als der Betrüger selbst schämt sich manch ein Allgäuer am TV-Bildschirm für sein einstiges Idol. Wäre er doch bloß beim harmlosen Weihwasser der portugiesischen Putzfrau geblieben!

    Nach Ablauf seiner Dopingsperre tritt Mühlegg 2005 ausgerechnet in seiner Heimat wieder an. Er startet als Hobbyläufer beim Ski-Trail "Tannheimer Tal - Bad Hindelang" und stellt dabei seine Autobiografie vor. Sie trägt den bezeichnenden Titel: "Allein gegen alle."

    Auf die Frage, nach seinem Verhältnis zur Wunderheilerin Agostinho antwortet er: "Ich bin Privatmensch und suche mir meine Freunde selbst aus."

    Mittlerweile lebt Mühlegg in Brasilien. Vor drei Jahren spürten ihn Reporter eines schwedischen Senders in Natal im Norden des Landes auf.

    Was er den ganzen Tag so treibt?

    "Nichts", antwortet er und lacht in Kamera.

    Es klingt seltsam hohl.

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