Sie hat das Abenteuer gesucht – und sie hat wahrlich ein abenteuerliches Jahr erlebt. Vor exakt einem Jahr verabschiedete sich Leichtathletin Lavinja Jürgens zum Auslandsstudium in die USA. „Ich bin in einer anderen Welt, aber ich freue mich auf diese Reise fürs Leben“, hatte die 20-Jährige im August 2019 gesagt. Zwölf Monate später, nach einer sportlich durchwachsenen Erfahrung, einem Corona-Lockdown, der nicht nur die Welt des blonden Lockenkopfs aus den Fugen geraten ließ und einer schweren Verletzung blickt Jürgens mit reichlich gemischten Gefühlen zurück. „Es ist auf keinen Fall ein verlorenes Jahr“, sagt Deutschlands Hochsprung-Juwel. „Aber es war viel Unwirkliches dabei.“
Jürgens gewinnt Award als beste "Newcomerin"
Denn nach einer, wenn auch „menschlich lehrreichen“, sportlich durchwachsenen Herbst- und Winterzeit an der University of Oklahoma gelang der siebenfachen Allgäuer Meisterin doch die Qualifikation für die „Big-12-Championships“ – einer Wettkampfserie, an der zehn Universitäten aus fünf Bundesstaaten teilnehmen. Jürgens berappelte sich trotz der fehlenden sportlichen Weiterentwicklung für den Jahreshöhepunkt. Die 20-Jährige gewann die Meisterschaft im Hochsprung mit 1,82 Metern und sicherte sich den Titel als „beste Newcomerin“ der Conference. Durch den Sieg hatte sich die Oberallgäuerin sogar für die nationale Meisterschaft der bundesweiten NCAA qualifiziert, zum Start sollte es aber nie kommen.
„Die Titelkämpfe waren für den 14. März in New Mexico angesetzt. Wir hatten Hallenbesichtigung, Briefings und Probetraining“, erinnert sich Jürgens. „Und am Abend davor wurde alles abgesagt. Das war so skurril, weil man uns in den USA immer erzählt hat, die Lage sei total undramatisch. Von zuhause habe ich anderes gehört – aber auf einen Schlag hat sich die Welt aufgehört zu drehen.“ Innerhalb von 24 Stunden überschlugen sich die Ereignisse.
„Eine wahnsinnig verrückte Zeit“
Jürgens reiste zurück an die Uni, noch am selben Abend wurde der Campus im Norden von Texas gesperrt, flogen die einheimischen Studenten nach Hause. Jürgens und eine belgische Kollegin waren auf sich alleine gestellt. „Es war unglaublich, wir haben im Internet nach Flügen geschaut, um irgendwie schnell heimzukommen“, berichtet die 20-Jährige. Weitere 36 Stunden später war es soweit – das Abenteuer Oklahoma endete jäh, sie erreichte die Heimat.

„Das Frühjahr war unbeschreiblich, eine wahnsinnig verrückte Zeit. Der wichtigste Wettkampf wurde abgebrochen – auf einen Schlag war ich wieder hier. Das Schlimmste war, dass ich mich bis heute von niemandem verabschieden konnte“, sagt Jürgens. Rein aus sportlicher Sicht hat der folgende Lockdown die deutsche U20-Meisterin wie viele Athleten hart getroffen. Ohne Halle, ohne Sportplatz und ohne Trainingsmöglichkeiten verbrachte die 20-Jährige die Zeit mit der Familie beim Wandern und Bergsteigen. Im Kraftraum im Elternhaus im Rettenberger Ortsteil Rieder hielt sich Jürgens fit, bis Ende Mai erste Trainings mit Mutter Cora erlaubt waren. Seither trainiert die Vorzeigeathletin weiter mit der TG aus Kranzegg und Untermaiselstein in Petersthal.
Nach der Corona-Krise: Defizite in der Technik
Dass die 1,89 Meter große Athletin in ihrer US-Zeit „sagen wir es so, keine großen Sprünge“ gemacht hat, rächte sich in der Folgezeit doppelt. Denn das Trockentraining bis zu den ersten Wettkämpfen im Juli war nicht nur eine zähe Angelegenheit – es deckte auch Jürgens’ Defizite auf. „An der Sprungkraft habe ich nichts verloren – im Gegenteil, da konnte ich viel trainieren. Aber man merkt brutal, dass meine Technik hinüber ist“, gesteht die Oberallgäuerin. „Wenn man keine Sprünge trainieren, keine Abläufe verfeinern kann, dann spürt man das im Wettkampf unheimlich. Deshalb nutzte die Bronzemedaillengewinnerin der U18-WM von 2018 auch die ersten Events als Testwettkämpfe für die Arbeit an Neigung im Anlauf, an Absprungwinkel und an Kopfhaltung bei der Lattenüberquerung.
Doch eine schwere Blessur verlangsamte den Wiedereinstieg erheblich: Seit dem Herbst plagt sich die 20-Jährige – ausgerechnet im linken Sprungbein – mit einer hartnäckigen Knochenhautentzündung herum. Nach dem Marathonsommer 2019, als Lavinja Jürgens in nur 14 Tagen den deutschen U20-Titel, Bronze bei der „Deutschen“ in Berlin und Rang vier bei der U20-EM gefeiert hatte, führt sie den Ursprung der Verletzung auf die erste Zeit in Oklahoma zurück. „Das kann durch Überbelastung oder durch falsche Beläge entstehen. Man kann niemandem Schuld zuweisen, aber es war schlicht der zu harte Hallenboden an der Uni“, sagt Jürgens.
Highlight in Braunschweig: Bronze bei der „Deutschen“
Und obwohl sich die Blessur in der Corona-Pause nicht wesentlich gebessert hatte, gelang es der 20-Jährigen, bei der deutschen Meisterschaft in Braunschweig Bronze vom Vorjahr zu wiederholen. Angesichts der Rahmenbedingungen und ihrer körperlichen Verfassung war Jürgens entsprechend zufrieden mit der Medaille, bei deren Gewinn sie mit 1,84 Metern zwei Zentimeter unter der persönlichen Bestleistung von 1,86 aus dem Vorjahr geblieben war. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich in dieser Phase so hoch springen kann. Aber ich bin wieder an 1,87 Metern gescheitert“, ärgert sich Jürgens. „Im kommenden Jahr muss ich diese Marke schaffen – den Druck mache ich mir selbst.“
Zuallererst muss die 20-Jährige aber ihrem Sprungbein Ruhe gönnen. Zeit dazu hat Lavinja Jürgens im Herbst allemal. Ihr Studium der Kriminologie setzt sie in München als Jurastudium fort. „Ich werde im Olympischen Dorf wohnen und unter dem Landestrainer trainieren. In der Heimat arbeite ich weiter mit meiner Mutter zusammen“, sagt Lavinja Jürgens und fügt an: „Es kehrt auf jeden Fall etwas Ruhe ein. Es war ein großes Abenteuer, das ich erlebt habe. Aber es ist gut so, wenn es jetzt ruhiger wird.“