Ziemlich schnöde, die Sache mit dem Sex. Wer sich die Oper „Der Reigen“ des österreichischen Komponisten Bernhard Lang (geboren 1957) anschaut, dem könnte die Lust auf die Lust erstmal vergehen. Basierend auf Arthur Schnitzlers um 1900 entstandenes Skandalstück „Reigen“, schildert sie zehn flüchtige Begegnungen von Männern und Frauen, denen es in der Mehrheit vor allem um eins geht: einen schnellen Fick. Während die abgenutzten Balzrituale beim Vorspiel und die physiologischen Vorgänge bei Erregung und Höhepunkt weitgehend problemlos funktionieren, geben die jeweiligen Protagonisten – vor allem nach dem Akt – weit mehr von sich preis, als sie vermutlich beabsichtigen. Denn ganz so simpel ist die Sache mit dem Beischlaf dann halt doch nicht.
Darauf pocht jedenfalls Komponist Bernhard Lang, der jede Paarkonstellation mit einem eigenen Klangbild charakterisiert. Dass ihm so gut wie keine geschmeidigen Harmonien dazu einfallen, entspricht einerseits der Handschrift des Komponisten. Vor allem aber bilden Disharmonien und reibende Sekundschichtungen hervorragend ab, welche Rituale und Emotionen die zehn Paarungsprozesse prägen: vom Einander-Belauern und Werben übers Sich-Zieren und Schämen bis hin zum Anspruch-Erheben und Besitz-Ergreifen. Freilich taucht immer mal wieder der Begriff „Liebe“ auf. Und in solchen Momenten klingt kurz auch mal ein Stück kantable Melodie an – die jedoch nicht länger trägt.
Denn die Liebe wird zwar abgefragt, eingefordert und vorgegaukelt, sie spielt in diesem Reigen aber bestenfalls als Attitüde eine Rolle. Kaum ist eine Umarmung gelöst, lässt sich einer der Partner in die nächste fallen. So geht das reihum – über Wohnungen, Tanzflächen, Schlafzimmer, Parkbänke, Stiegenhäuser, Waschküchen und Straßenfluchten, bis der opernbesuchende Voyeur bemerkt: Da wiederholt sich ja was. Schnitzlers Theaterstück erfuhr Anfang des 20. Jahrhunderts ob des unmoralischen Treibens nicht nur Empörung, sondern auch Zensur und Aufführungsverbot. Natürlich wusste man auch damals von untreuen Eheleuten, sexueller Ausbeutung von Untergebenen und vorehelichen Affären – selbst in den besten Kreisen. Die (Doppel-) Moral aber forderte: das Unerhörte ignorieren – und stillschweigend akzeptieren.
Im Vergleich zur Urfassung des Stoffs skizzieren Bernhard Lang und sein Librettist Michael Sturmlinger die weiblichen Charaktere in ihrem Reigen neu. Sie sind keine Spielfiguren mehr, sondern spielen mit. Naivität gaukeln das Hausmädchen, die junge Frau und das Schulmädchen höchstens mal vor, zugleich lernen sie von jeder miesen Nummer – um in der nächsten selbst das Heft in die Hand zu nehmen.
„Zehn Dialoge“ lautet der Untertitel von Bernhard Langs Oper. Und tatsächlich ordnet der Komponist dem Sprechen seine Musik unter. Die Partitur, die das Amadeus-Ensemble Wien mit Steichern, Bläsern, Schlagwerk und Synthesizern unter Dirigent Walter Kobéra enorm dynamisch spielt, ist im Rhythmus der Sprache gesetzt und entlarvt häufig – in Form von Wiederholungen und Loops – leere Versprechungen und abgedroschene Phrasen. Wenn Überzeichnungen ins Lächerliche abgleitendes Auftreten unterstreichen, entstehen komische Momente, die den Zugang zur über eineinhalb Stunden doch recht anstrengend zu hörenden Oper erleichtern.
Die zwei Sängerinnen und drei Sänger beeindrucken durch überwältigende stimmliche Präsenz. Zugleich zeichnen sie als Darsteller plastische Charaktere und karikieren die Paare köstlich, wenn sie vom Vorspiel zum Orgasmus taumeln – und sich in der Abkühlungsphase in kontroverse Debatten versteigen. Wie mühelos dabei die Mezzosopranistin Barbara Pöltl, der Tenor Alexander Kaimbacher, die Sopranistin Anita Giovanna Rosati, der Bariton Marco Disapia und der Countertenor Thomas Lichtenecker von einer Rolle zur nächsten wechseln, hinterlässt einen starken Eindruck.
Großen Anteil an der gelungenen Inszenierung unter Regisseurin Alexandra Liedtke hat das faszinierende Bühnenbild. Da entstehen per Video vor den Augen des Publikums Kreidezeichnungen, die kaum merklich zu Projektionen von tristen Straßen- und Großstadtszenerien werden. In dieser Projektionsfläche tun sich nacheinander zehn konkrete Räume auf – als Schauplätze der geschlechtlichen Vereinigung. Und während Frauen die Beine breit machen und Männer die Hosen runterlassen, beschreiben auf der Leinwand bewegte Bilder die (scheinbar) einzigartige Extase, der alle nachjagen: mal als auf perligem Wasser treibender Körper, mal als alles verschlingender Sog.