Auf der einstündigen Fahrt von Berlin ins brandenburgische Hirschfelde zeigt der Wald, was er kann. Gut 34 Grad sind es in der aufgeheizten Hauptstadt, im Ziel angelangt ist das Thermometer um sieben Grad gesunken. Hier steht Waldbesitzer Mathias Graf von Schwerin zusammen mit Jagdhündin Hummel inmitten seiner natürlichen Klimaanlage. Gute 1000 Hektar ist der Forstbetrieb Hirschfelde groß, seit 15 Jahren lebt Schwerin hier und arbeitet „nach den Grundsätzen der naturgemäßen Waldwirtschaft“. Wer sich umschaut, sieht Bäume und Sträucher, die ungleich fitter sind als viele ihrer mickrigen Artgenossen in den umliegenden Brandenburger Wäldern. Schwerins Methode scheint zu funktionieren und der normale Waldspaziergänger fragt sich, warum nicht alle Forste in Deutschland so aussehen.
Schwerin, Jahrgang 1965, hat seit 30 Jahren einen Jagdschein. Er kann nicht nur scharf schießen, sondern auch gezielt formulieren, und das hat ihm bei einigen Waldbesitzern und Jägern einen gewissen Ruf eingetragen. „Öko-Spinner“ wird er beispielsweise genannt. Die Kritik verkennt, dass Schwerin Unternehmer ist und von seinem Forstbetrieb lebt. Für Spinnereien ist da kein Platz, für das Reh und den Hirsch aber auch nicht – und das ist Schwerins Problem.

91 Rehe kamen vor die Flinte, um den Wald zu retten
Die sogenannte naturnahe Waldbewirtschaftung, wie sie hier in Hirschfelde und in vielen Teilen der Republik betrieben wird, ist durch Mischbestände aus Bäumen unterschiedlichen Alters gekennzeichnet. Bei Schwerin wächst unter dem Dach aus Kiefern, Flatterulmen und anderen Bäumen praktisch kostenlos der bunt gemischte Nachwuchs heran. Die zarten Pflänzchen sind allerdings eine willkommene Mahlzeit für Rehe oder Hirsche, und da stellt sich die Frage: Wald oder Wild? Baum oder Bambi? Schwerin hat sich für den Wald entschieden.
Knapp 4,2 Tonnen Wild wurden in seinem Revier im Jagdjahr 2021/2022 zur Strecke gebracht. Unter anderem ließen 91 Rehe ihr Leben, und es sind Zahlen wie diese, die Tierschützerinnen und Tierschützer zu Tränen rühren. Sie schimpfen auf Jäger wie Schwerin, der wiederum schaut verächtlich auf das, was er „klassische Jäger“ nennt. „Die benutzen den Wald doch nur als Kulisse“, sagt er und kritisiert, es gehe dabei vor allem um Trophäen. Schwerin hingegen reklamiert für sich die Einhaltung der Leitlinien des Ökologischen Jagdverbandes ÖJV, dessen Landesvorsitzender und Vizechef auf Bundesebene er ist. Ein Jagdziel ist demnach „die Vermeidung von Beeinträchtigungen der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft sowie des Naturhaushaltes und der Landeskultur“.

Der Bund investiert 900 Millionen Euro in mehr Klimaschutz und Biodiversität in den deutschen Wäldern
Zäune können die Neuanpflanzungen auch vor „Beeinträchtigungen“ schützen, aber bei diesem Thema kommt Schwerin richtig in Fahrt. Er holt eine Tabellenkalkulation heraus und daraus geht hervor, dass ein Waldbestand mit Pflanzung allein schon durch die Kosten für den Zaunbau Miese macht. „Die überleben nur, weil sie so hohe Zuschüsse bekommen“, schimpft Schwerin in Richtung Bundespolitik, die an diesem Tag auch durch seinen Wald spaziert.
Manuela Rottmann, Staatssekretärin im Landwirtschaftsministerium von Cem Özdemir, und Bettina Hoffmann, Amtskollegin im Umweltressort von Steffi Lemke (alle Grüne), sehen einerseits, dass Schwerins Modell funktioniert. Immerhin 900 Millionen Euro hat Rottmanns Haus für die „Finanzierung von mehr Klimaschutz und Biodiversität in den deutschen Wäldern“ loseisen können. Die Ampel hat die Reform des 40 Jahre alten Bundeswaldgesetzes in den Koalitionsvertrag aufgenommen, auch so soll der Waldumbau „hin zu artenreichen und klimaresilienten Wäldern mit überwiegend heimischen Baumarten“ gelingen.
Wer fürchtet sich vorm bösen Wolf?
Aber allein schon bei der Definition von „heimische Baumarten“ gehen die Ansichten bei Politik und Lobbyisten weit auseinander. Bei der Frage, was ein „intaktes Waldökosystem“ ausmacht, wird es nahezu religiös. Für die einen gehört das Reh unbedingt dazu und darf deshalb nur eingeschränkt gejagt werden. Andere sehen auch den Wolf in diesem Ökosystem – und überhaupt der Wolf! Der Bundestag diskutiert schon seit Jahren hochemotional über den Umgang mit dem Raubtier. Herausgekommen ist dabei außer einem bezeichnenden Begriffswechsel nichts: Es heißt nicht mehr „Wolfsjagd“, sondern „Wolfsmanagement“.
Schwerin hat in seinem Revier ein Stück Wald stehen lassen, das Ausdruck der klassischen Forstwirtschaft ist, die als Gegenstück zur naturgemäßen Waldwirtschaft dargestellt wird. Auf der Fläche wachsen gleichaltrige Bäume dicht an dicht, im Dunkel darunter kommt nichts nach. Auf der anderen Seite des Weges erblüht ein neuer Wald, der Kontrast ist beeindruckend. Politik indes ist nicht immer logisch. Rottmann und Hoffmann schwant, dass es noch lange Debatten über die Waldwirtschaft der Zukunft geben wird.
Doch Zeit hat der Wald nicht mehr. Der Klimawandel mit seinen Dürren und Stürmen setzt nicht nur dem Forstbetrieb Hirschfeld zu. „Einen Wald besitzt man nicht, man dient ihm“, sagt Schwerin und mahnt zur Eile: „Wir müssen jetzt handeln,
. Sonst ist es zu spät.“