Die durchdringende Stimme ist ihr Markenzeichen. "Attenzione borseggatrici, attenzione pickpocket", ruft Monica Poli. Sie läuft zwei Frauen hinterher, die mit ihren Handtaschen als gewöhnliche Touristinnen durchgehen könnten. Monica Poli filmt die beiden. Die 57-jährige Venezianerin ist überzeugt, dass es sich bei den Frauen um Taschendiebinnen handelt. Zu hören ist nur ihr gellender Warnruf: "Attenzione pickpocket!" Das Video der Szene hat Monica Poli ins Internet gestellt.
Sie ist Lokalpolitikerin der rechtsnationalen italienischen Lega-Partei und will Touristen vor den zahlreichen Taschendieben in der Lagunenstadt warnen. Von ihren Rundgängen hat Poli etliche Videos in sozialen Netzwerken wie Tiktok veröffentlicht. Zu sehen sind als Urlaubsgäste verkleidete Diebe, Männer und Frauen, die meist in Gruppen agieren. Blitzschnell entwenden sie Geldbeutel aus Handtaschen oder Rucksäcken. Ein Stadtplan dient ihnen oft als Tarnung. Poli behauptet, die Taschendiebe seien "Banden aus Osteuropa", von denen die meisten in Roma-Lagern lebten.
Vormittags ist Monica Poli Putzfrau, nachmittags Taschendieb-Jägerin
Polis Videos werden millionenfach geklickt. Als "Lady Pickpocket" bezeichnen sie manche Nutzerinnen und Nutzer. Vormittags arbeitet die Venezianerin als Putzfrau. Nachmittags geht sie bis zu sechs Stunden lang auf Jagd am Bahnhof, auf den Vaporetto-Wasserbussen, an der Rialto-Brücke oder an der Piazza San Marco. Ihre Rundgänge sind nicht neu, haben durch die sozialen Netzwerke aber einen medialen Boom erfahren. In den USA hat die NBA-Basketball-Mannschaft der LA Clippers Videosequenzen mit Polis Stimme unterlegt. Zu sehen sind Clippers-Spieler, wie sie den Gegnern Bälle klauen. Andere Nutzer haben Polis Videos in eine Parodie auf die angebliche Gier eines britischen Energiekonzerns umgemünzt.
Poli ist die Galionsfigur einer Gruppe namens "Cittadini non distratti" - auf Deutsch etwa: aufmerksame Bürger -, die es seit 30 Jahren auf Migranten, Migrantinnen und Taschendiebe abgesehen hat. Zu Beginn mit noch zweifelhafteren Methoden: Laut Zeitungsberichten sollen Mitglieder der Gruppe in den 90er Jahren Selbstjustiz an angeblich kriminellen Ausländern geübt, diese verprügelt und in einem Fall sogar mit Messerstichen verletzt haben. Auf ihrer Facebook-Seite gibt die Gruppe heute an, "keine Aufstachelung zum Rassismus" zu betreiben. Stattdessen würden gestohlene und weggeworfene Geldbeutel den Eigentümern zurückgegeben und Anzeige bei der Polizei erstattet. Im Jahr 2019 berichtete der Economist, dass 30 Prozent der angezeigten Taschendiebstähle in Venedig auf die Tätigkeiten der rund 60 Mitglieder der Gruppe zurückzuführen seien. Die Mitglieder fordern, die Polizei solle mit Zivilbeamten stärker gegen das Phänomen vorgehen. Bekannt ist, dass die Lega zwischendurch regelrechte Kampagnen gegen Mitglieder der Roma in Italien führte. Lega-Chef Matteo Salvini, heute Minister für Infrastruktur, bezeichnete Roma vor Jahren als "Parasiten".
In einem Interview mit der New York Times sagte Taschendieb-Jägerin Monica Poli auf die Frage, wie sie die Diebe erkenne, sie habe einen "sechsten Sinn" für diese Personen. "Ich erkenne sie sofort." Einmal seien die Entlarvten ihr gegenüber handgreiflich geworden, meist bleibe es bei Beleidigungen. Auf anderen Videos ist zu sehen, wie die Gefilmten ihre Gesichter verstecken und vor den lauten Warnrufen Polis davonlaufen. Über ihre Motivation sagt Poli, sie wolle die Touristen warnen: "Kommt zu uns, aber passt auf!", sagt sie. Sie sehe immer mehr Touristen, die ihre Handtasche eng am Oberkörper tragen. Vielleicht hätten die Rundgänge von Aktivisten und Aktivistinnen wie sie diese Menschen sensibilisiert, mutmaßt Poli.