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Analyse: Greift Putin nach der Ukraine Georgien an?

Analyse

Greift Putin nach der Ukraine Georgien an?

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    Georgische Grenzschutzbeamte patrouillieren an der Grenze zu Georgiens abtrünniger Region Südossetien.
    Georgische Grenzschutzbeamte patrouillieren an der Grenze zu Georgiens abtrünniger Region Südossetien. Foto: Shakh Aivazov, dpa

    Für Tina Chidascheli ist die Rechnung einfach. „Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Ausgang des Krieges in der Ukraine und der Zukunft des georgischen Staates“, erklärt die 48-Jährige, die bis 2016 Verteidigungsministerin in Tiflis war. „Es ist nicht zu erwarten, dass ein besiegter Wladimir Putin Georgien angreift“, sagt Chidascheli über den russischen Präsidenten. Genauso sicher ist sie aber, dass auch der Umkehrschluss zutrifft. „Sollte es anders kommen, wird der machthungrige Putin nach einem Sieg in der Ukraine nicht aufhören.“ Georgien und Moldau stünden dann ganz oben auf der Eroberungsliste des Kremlchefs. Deshalb sei vor allem die Nato gefragt, die potenziellen Opfer russischer Aggressionen zu unterstützen.

    Bislang schloss sich Georgien den Sanktionen gegen Russland nicht an

    Chidascheli, die heute eine außenpolitische Denkfabrik leitet, teilt ihre Sicht mit den meisten ihrer Landsleute. Neun von zehn Menschen in Georgien sehen den großen Nachbarn im Norden als Bedrohung an. Auch die Regierung in Tiflis ist vorsichtig. Sie hat den russischen Überfall auf die Ukraine zwar zum Anlass genommen, ihren für 2024 geplanten Antrag auf EU-Mitgliedschaft vorzuziehen. Seit Anfang März gibt es nun konkrete Gespräche mit Brüssel über eine Beitrittsperspektive. Den westlichen Sanktionen gegen Russland schloss sich Georgien aber bislang nicht an. „Aus Angst, als Nächstes an der Reihe zu sein“, sagt der Politikwissenschaftler Gela Wasadse. Die Sorgen kommen nicht von ungefähr. Schließlich rollten 2008 schon einmal russische Panzer auf Tiflis zu.

    Wer die aktuelle Konfliktlage verstehen will, muss daher zunächst zurückblicken. Vor 14 Jahren gab in Georgien der prowestliche, aber oft sprunghaft agierende Präsident Michail Saakaschwili den Ton an. Sein Ziel war ein schneller Nato-Beitritt, den Deutschland und Frankreich zunächst blockierten. Das änderte allerdings nichts daran, dass der Kreml in der Schwarzmeerrepublik einen geostrategischen Gegner sah. Moskau begann, separatistische Milizen in den abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien aufzurüsten. Außerdem ließ Russland dort eigene Pässe an die Bevölkerung verteilen. Im August 2008 setzte Saakaschwili dann alles auf eine Karte. Er schickte Truppen nach Südossetien, ließ die Hauptstadt Zchinwali beschießen – und ging Putin damit in die Falle.

    Der Kreml war bestens vorbereitet. Die russische Armee schlug Saakaschwilis Soldaten nicht nur zurück, sondern drang mit Panzern Richtung Tiflis vor. Südossetien und Abchasien erklärten sich zu unabhängigen Republiken. Russland erkannte sie an und stationierte dort mehr als 10.000 Soldaten. Georgien verlor die Kontrolle über 20 Prozent seines Territoriums. Spätestens seit der russischen Krim-Annexion 2014 herrscht in Tiflis aber die Sorge vor noch weitergehenden Plänen Putins. Wie begründet die Furcht ist, zeigt sich derzeit in Südossetien. Dort setzte der international nicht anerkannte Präsident Anatoli Bibilow Mitte Mai per Dekret ein Referendum über den Anschluss an Russland an.

    Weitere Gespräche über die Integration Südossetiens sollen geführt werden

    „Wir gehen diesen schicksalhaften Schritt und kehren heim“, erklärte Bibilow und wiederholte für alle, die es nicht sofort verstanden: „Wir gehen nach Russland.“ Damit jedoch begann das Verwirrspiel erst. Denn Bibilow war, als er seinen Ukas unterzeichnete, nur noch geschäftsführend im Amt. Der neue „Präsident“, ein ehemaliger Geheimdienstmann mit besten Beziehungen nach Moskau, hielt anfangs zwar an den Referendumsplänen fest. Er verzichtete aber auf Bibilows „Heim ins Reich“-Rhetorik. Am späten Montagabend kassierte er dann alles wieder ein. Zunächst werde man weitere Gespräche mit Russland über die weitere Integration Südossetiens führen.

    In Tiflis sind sich die meisten Beobachter einig, dass der Kreml das Hin und Her geplant hat, um Georgien seine Folterinstrumente vorzuführen. Devise: Wenn ihr euch zu weit nach Westen vorwagt, können wir innerhalb kürzester Zeit mit einer Annexion Südossetiens reagieren. Dass Putin auf eine schnelle Eskalation im Kaukasus abzielt, hält der Moskauer Politikwissenschaftler Andrei Kortunow allerdings für „unwahrscheinlich“. Eine zweite Front sei nichts, was der Kreml derzeit brauchen könne. Tatsächlich hat die russische Armee schon vor dem Angriff auf die Ukraine Truppen und militärisches Gerät aus Südossetien und Abchasien in das Kriegsgebiet verlegt, darunter auch einheimische Kämpfer. Mit begrenztem Erfolg. Rund 300 Soldaten aus dem Kaukasus desertierten bislang in der Ukraine. Begründung: „Dies ist nicht unser Krieg.“

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