So aufgeregt die öffentliche Debatte auch manchmal wurde, in Krisenzeiten legten die Deutschen meist eine ausgesprochene Gelassenheit an den Tag. Eurokrise, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise – die sprichwörtliche „German Angst“ war vielfach ein Phänomen, das vor allem unter Experten diskutiert wurde, den Alltag aber kaum berührte. Umfragen zeugten stets von einem großen Zutrauen in die politischen Entscheider. Selbst auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie hatten mehr als 70 Prozent der Menschen großes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Doch nun, mit der Energiekrise, setzt trotz milliardenschwerer Entlastungspakete eine massive Erosion ein. Und das ausgerechnet in der Mitte der Gesellschaft.
Der Krieg in der Ukraine, die anhaltend hohe Inflation und die Energieknappheit lassen die 30- bis 59-Jährigen mit großer Sorge vor dem wirtschaftlichen Abstieg auf die kommenden Monate blicken. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des renommierten Instituts für Demoskopie (IfD) in Allensbach. Mehr als die Hälfte (51 Prozent) der Befragten schaut mit großen Befürchtungen auf die kommenden Monate, weitere 27 Prozent mit Skepsis. „Das ist ein beispielloser Stimmungseinbruch“, sagt Renate Köcher, Geschäftsführerin des IfD. „Auch im vergangenen Jahr und insbesondere im ersten Pandemiejahr 2020 waren die Menschen besorgt, aber sie waren nicht annähernd so pessimistisch wie jetzt.“
In der "Generation Mitte" gibt es mehr Pessimisten als Optimisten
Das IfD macht die Umfrage bereits seit vielen Jahren, kann den Pulsschlag der Deutschen also in Relation setzen. Umso auffälliger das Ergebnis: Zum ersten Mal überwiegen in dieser sogenannten „Generation Mitte“ die Pessimisten die Optimisten. Vor allem die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg und den steigenden Preisen prägt das Denken: Für 85 Prozent der Befragten ist das die größte Sorge. 56 Prozent befürchten, dass sie wegen der Inflation in finanzielle Schwierigkeiten geraten könnten, und 45 Prozent, dass dadurch ihre Ersparnisse entwertet werden.
Unbegründet ist die Sorge nicht. Die Inflation entwertet die Gehälter hierzulande immer stärker. Wie das Bundesamt für Statistik am Dienstag mitteilte, waren die Einkommen im dritten Quartal 2022 zwar nominal 2,3 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum, wurden aber von den um 8,4 Prozent gestiegenen Verbraucherpreisen mehr als aufgezehrt. Daraus ergibt sich ein realer, also um die Preisentwicklung bereinigter Lohnverlust von 5,7 Prozent. Dies ist der höchste Verlust seit Einführung der Statistik im Jahr 2008, so die Behörde. Besserung gibt es nur in homöopathischen Dosen: Im November hat sie sich leicht abgeschwächt – auf 10 Prozent.
Die Zahl der Bedürftigen in Deutschland steigt
Das hat Folgen nicht nur auf die Stimmung, sondern ganz konkret auf den Alltag. Über zwei Millionen Menschen suchen regelmäßig Unterstützung bei den Tafeln – so viele wie nie zuvor. Millionen Menschen können ihre Wohnung nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht angemessen heizen. Und fast jeder zweite Konsument gab kürzlich bei einer Umfrage der Unternehmensberatung EY an, wegen der explodierenden Lebenshaltungskosten nur noch das Nötigste einzukaufen. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, ist zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent auf 11,1 Prozent der Bevölkerung gestiegen.
Neben der Inflation und der damit verbundenen Angst vor dem eigenen Abstieg beunruhigt die mittlere Generation laut der Allensbach-Umfrage vor allem die Energieversorgung. Zwar sei die Sorge vor Versorgungsengpässen in diesem Winter zurückgegangen, doch der Mehrheit sei bewusst, dass die Energieversorgung auch danach ein Problem darstellen wird. Hinzu kommt: Die große Mehrheit der mittleren Generation sieht bei sich persönlich kaum Spielraum für Einsparungen. Nur 7 Prozent sehen erhebliche, 69 Prozent nur geringe und 22 Prozent überhaupt keine Einsparpotenziale. Das spürt auch die Bundesnetzagentur, die regelmäßig Berichte über die aktuelle Gasversorgung veröffentlicht. Der Gasverbrauch lag in der 46. Kalenderwoche zwar 21,3 Prozent unter dem durchschnittlichen Verbrauch der letzten vier Jahre, ist aber gegenüber der Vorwoche um fast 28 Prozent gestiegen. Mit weiter sinkenden Temperaturen wird sich der Gasverbrauch wohl noch einmal weiter steigern. Zu verdanken ist ein großer Teil der Einsparungen ohnehin vor allem der Industrie.
Nur 14 Prozent haben großes Vertrauen in die Regierungsmaßnahmen
Die von Allensbach Befragten fordern den Staat auf zu handeln – und zweifeln doch gleichzeitig daran, dass das gelingen könnte. Fast zwei Drittel sehen es als staatliche Aufgabe, Inflation und Energieknappheit zu bekämpfen. Nur 25 Prozent halten das für eine überzogene Erwartungshaltung. Lediglich 14 Prozent haben großes oder sehr großes Vertrauen, dass die Maßnahmen greifen. Dagegen haben drei Viertel der Befragten wenig oder kein Vertrauen ins Krisenmanagement der Regierung.
Dazu passt, dass nur eine kleine Minderheit der Befragten den Eindruck hat, dass ihr die Maßnahmen der Regierung persönlich Vorteile bringen. Lediglich 5 Prozent der „Generation Mitte“ ziehen diese Bilanz, während 42 Prozent Nachteile sehen. „Zuletzt waren vor 20 Jahren ähnlich kritische Ergebnisse zu verzeichnen, als die damalige rot-grüne Regierung auf die Wachstumsschwäche mit der Agenda 2010 reagierte“, sagt Köcher.