Professor Gigerenzer, nehmen wir mal an, es gäbe diesen sogenannten „Freedom-Day“, an dem alle Corona-Regeln fallen. Was glauben Sie, wie die Menschen reagieren?
GerdGigerenzer: Sehr unterschiedlich. Es gibt sicherlich Leute, die das wunderbar finden und Party machen. Aber es wird andere geben, die große Bedenken haben und von sich aus weiter eine Maske tragen und Menschenansammlungen meiden. Ich denke, das wird auch ein Test sein, wie sozial verantwortlich und wie risikokompetent wir sind.
Was ist Risikokompetenz?
Gigerenzer: Risikokompetenz ist die Fähigkeit, Gefahren zu erkennen und sie angemessen zu beurteilen. Doch genau das fällt vielen schwer. Zum Beispiel haben einige Menschen aus Furcht vor Spätfolgen die Impfung aufgeschoben. Aber das Risiko, wegen einer schweren Corona-Infektion auf der Intensivstation zu landen, ist viel höher als eine seltene Impfreaktion.
Wie kann man das lernen, Risiken ins Verhältnis zu setzen?
Gigerenzer: Es ist nicht so schwer. Das ist keine höhere Mathematik. Es beginnt mit der Einsicht, dass nichts sicher ist. Als etwa die ersten Impfdurchbrüche bekannt wurden, haben manche das Vertrauen in die Impfung verloren, da sie glaubten, eine Impfung sei absolut sicher. Diese Garantie gibt es nicht. Damit muss ich lernen zu leben, statt es zu verleugnen und in irgendeiner Verschwörungstheorie Sicherheit zu suchen. Und man sollte immer bedenken: Wenn ich ein Risiko auf null reduziere, gehe ich wahrscheinlich ein anderes größeres ein.
Also ist die Querdenken-Bewegung ein Produkt aus fehlender Risikokompetenz?
Gigerenzer: Es gibt auch Querdenker, die politisch motiviert sind. Für sie ist Corona nicht wirklich wichtig, sie suchen sich einfach ein Thema, mit dem sie gegen die Regierung wettern können. Fehlende Risikokompetenz liegt dagegen etwa vor, wenn jemand der Impfung gegenüber skeptisch ist, nur weil Durchbrüche vorkommen oder Impfungen seltene, schwere Nebenwirkungen haben. Aber ich würde die Skepsis nicht nur auf die fehlende Risikokompetenz der Menschen schieben. Dem Entstehen von Verschwörungstheorien und Bewegungen wie den Querdenkern hätten Politik und Medien durch bessere Risikokommunikation vorbeugen können. Und wie wir sehen, hat das nicht immer geklappt.
Das müssen Sie mir genauer erklären.
Gigerenzer: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In einer ZDF-Talkshow im November 2021 wurde eine Grafik gezeigt, auf der stand: Unter den über 60-Jährigen sind 91 Prozent geimpft und neun Prozent nicht. Und darunter war zu lesen: Dass unter den Neuinfizierten 60 Prozent geimpft sind und nur 40 Prozent nicht. Und das sah so aus, als ob die Impfung nicht wirksam ist. Die Zahlen waren nicht falsch, aber sie waren verwirrend dargestellt. Millionen von Deutschen sind nach dieser Sendung rausgegangen mit der Botschaft: Impfung funktioniert doch nicht wirklich – was natürlich nicht stimmt.
Was hätte man bei dieser Sendung besser machen müssen?
Gigerenzer: Gute Risikokommunikation heißt, dass man klar erklärt, was diese Zahlen bedeuten. Stellen Sie sich hundert Personen vor – 91 Prozent geimpft, neun Prozent nicht. Zehn davon infizieren sich. Laut der Statistik sind also sechs Infizierte unter den 91 Geimpften, vier unter den neun Ungeimpften. Das Risiko sich zu infizieren ist also bei den Geimpften deutlich niedriger. Man kann sich auch Folgendes klar machen: Wenn etwa alle geimpft wären, dann würden sich nur noch Geimpfte infizieren. Das ist nicht so schwer zu verstehen. Aber diese einfache Risikokommunikation ist nicht passiert. Und man hat sicher dazu beigetragen, dass mehr Menschen sich von der Impfung abwenden. Das darf nicht sein.
Welche Verantwortung tragen Medien und soziale Netzwerke also?
Gigerenzer: Meiner Meinung nach sind viele Medien – nicht alle – und soziale Netzwerke ein Grund dafür, dass es so viele Impfskeptiker gibt. Das alles fing an, als bekannt wurde, dass der Impfstoff AstraZeneca zu schweren Thrombosen führen kann. Diese Nachricht wurde aufgebauscht, ungeachtet der geringen Wahrscheinlichkeit dieser Thrombosen. Die seltenen Gefahren der Impfung müssen offen kommuniziert werden, aber nicht als Sensation, sondern in Vergleich zu anderen Risiken gesetzt werden. Beispielsweise haben viele Medikamente, die wir ohne Bedenken einnehmen, etwa Aspirin, schwere Nebenwirkungen, die im gleichen niedrigem Wahrscheinlichkeitsbereich liegen. Medien sollten Menschen nicht Angst machen, sondern ihnen helfen, gute Entscheidungen zu treffen.
In den vergangenen zwei Jahren wurden die Schutzmaßnahmen von der Politik für uns gemacht. Können wir nun überhaupt eigenverantwortlich mit dem Virus umgehen?
Gigerenzer: Wir leben in einer Demokratie und die Entscheidungen wurden alle typisch demokratisch gefällt – also langwierig und mit vielen Diskussionen. Ich sehe das nicht so, dass von oben diktiert wurde und wir einfach ausführen mussten. Eigenverantwortung war immer wichtig, und wird es auch bleiben. Eigenverantwortung bedeutet auch soziale Verantwortung: Nicht nur an sich selbst zu denken, sondern daran, dass das eigene Verhalten Konsequenzen für die Gesundheit von gefährdeten Menschen hat. Verantwortlichkeit braucht den Mut, sich ein eigenes informiertes Urteil zu bilden und auch dazu zu stehen. Viele Leute tun einfach das, was ihre Freunde und Familie für richtig halten, manchmal aus Angst, sonst ausgeschlossen zu werden. Freiheit bedeutet nicht, dass es keine Abstandspflicht oder G-Regeln mehr gibt, sondern den Mut zu haben, selbst informiert zu entscheiden. Und da kommt wieder das Thema Risikokompetenz ins Spiel.
Wenn Risikokompetenz so wichtig ist, warum hat sie dann keinen höheren Stellenwert? Warum kennen die wenigsten Menschen diesen Begriff?
Gigerenzer: Wir haben in Deutschland kaum eine Institution, die Risikokompetenz vermittelt. Eine Ausnahme ist das Harding-Zentrum an der Universität Potsdam. Wir bräuchten eine wissenschaftliche Einrichtung, die das Vertrauen der Bevölkerung hat, von der Politik unabhängig ist und es versteht, mit den Leuten zu reden. Also klar zu sagen, was wir wissen und was wir noch nicht wissen. Wie gesagt: Die Pandemie hat gezeigt, dass die Kommunikation oft nicht funktioniert hat. Dennoch besteht bisher kein erkennbares Interesse, aus dieser Erfahrung zu lernen. Wir werden wohl unvorbereitet in die nächste Krise gehen.
Was können wir denn aus den zwei Pandemie-Jahren mitnehmen?
Gigerenzer: Wir können aus dem lernen, was nicht so gut geklappt hat. Aber nur wenig Menschen machen sich die Mühe, Zahlen zu verstehen. Hier ist eine massive Bildungslücke, die wir endlich angehen sollten. Statistisches Denken ist Teil von Risikokompetenz, genauso wie die Psychologie der Angst. Also zu verstehen, wer und was uns Angst macht, und wie die eigenen Gefühle gelenkt werden. Das Virus ist ein Weckruf, dass wir in einer unsicheren Welt leben. Das vergessen wir nach jeder Krise.
Die meisten Menschen sind froh, wenn sie das Thema Corona hinter sich lassen können und wollen sich nicht mehr damit beschäftigen. Wie kann man vermitteln, dass wir aus der Pandemie viel Positives ziehen können?
Gigerenzer: Erinnern Sie sich noch an die Schweinegrippe, die Vogelgrippe, Ebola, den Rinderwahnsinn? Bei allen waren wir froh, als es endlich vorbei war und haben kaum etwas daraus gelernt. Und das kann gut auch dieses Mal passieren. Corona gibt uns jedoch die Chance, unsere Zahlenblindheit und die Illusion von Gewissheit zu überwinden. Wir können lernen, soziale Rücksicht zu nehmen, uns besser zu informieren und zu entscheiden. Wir sollten etwa die Gelegenheit nutzen, Schülern jetzt statistisches Denken beizubringen. Wann denn sonst? Auch Medien könnten verantwortlicher handeln und Menschen zum Denken zu inspirieren, statt sie mit der nächsten Schreckensnachricht emotional aufzuregen. Einschaltquoten und Likes sind nicht dasselbe wie Verantwortung.
Welche Tipps würden sie Menschen geben, um besser mit künftigen Ausnahmesituationen umzugehen?
Gigerenzer: Jeder von uns wird etwas anderes aus der Pandemie lernen. Das kann sein, in Zukunft Risiken abzuwägen, statt nur auf ein Risiko zu sehen. Oder kritischer auf den Inhalt von alarmierenden Geschichten in sozialen Medien zu sehen und diese nicht einfach zu teilen. Risikokompetenz ist so wichtig wie nie.
Bis 20. März möchte die Bundesregierung die Corona-Regeln auf ein Minimum zurückfahren. Ist die Pandemie nun vorbei?
Gigerenzer: Wahrscheinlich ist es Wunschdenken, dass das Thema hinter uns liegt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Corona mit einer neuen Virusvariante im Herbst zurückkehrt. Was die Politik uns sagt, ist so ungewiss wie die Pandemie selbst. Wir werden immer wieder überrascht werden.