Kühe durften im Allgäu nicht mehr auf die Weide und kein frisch gemähtes Gras mehr fressen. Frischmilch durfte zum Teil nicht mehr verkauft werden. Eier aus Legebatterien, Gemüse aus dem Treibhaus oder aus Dosen und Hühner aus Massenhaltung waren gefragt. Die Angst der Allgäuer war groß. Denn die radioaktiven Auswirkungen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl waren 1986 auch im Allgäu zu spüren - und sind es bis heute.
Am 26. April 1986 explodierte Block vier im damals noch sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl nahe der Stadt Pripyat (heutige Ukraine) - bis dahin die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Kernkraft. Es gab Tausende Tote und Verletzte. Radioaktiv verstrahlte Landstriche um die Atomruine wurden gesperrt und Zehntausende zwangsumgesiedelt.
Bei der Explosion gelangten radioaktive Stoffe in die Atmosphäre. Die radioaktive Wolke zog zunächst Richtung Skandinavien und dann nach Zentraleuropa. Am 30. April1986 erreichte die Wolke auch Bayern. Besonders betroffen waren die Gebiete, in denen es regnete - in Bayern vor allem der Süden, Teile von Schwaben (unter anderem das gesamte Allgäu), der Bayerische Wald und auch einige Gebiete in der Oberpfalz und in Oberfranken.

35 Jahre Tschernobyl: Eine radioaktive Wolke gelangte auch ins Allgäu
In der nach Bayern gelangten radioaktiven Luft wurden etwa 30 verschiedene radioaktive Stoffe nachgewiesen. Anfangs waren für die Menschen vor allem Cäsium-137, Cäsium-134 und Iod-131 von Bedeutung. Die letzten beiden spielen heute wegen ihrer kürzeren Halbwertszeiten von zwei Jahren beziehungsweise acht Tagen kaum mehr eine Rolle. Anders verhält es sich bei Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren. Heute ist knapp mehr als die Hälfte des radioaktiven Stoffs zerfallen.
Vor allem im Boden lagerten sich die radioaktiven Stoffe ab. Die Cäsium-137-Konzentration hat sich dabei je nach Nutzung des Bodens sehr unterschiedlich entwickelt. Laut eines Sprechers des Bayerischen Landesamts für Umwelt (LfU) ist die Radioaktivität in Ackerböden kaum mehr nachweisbar. Das hängt mit dem regelmäßigen Umpflügen und dem jährlichen Abernten zusammen. Deshalb weisen landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Milch oder Fleisch auch in den 1986 stärker belasteten Gebieten nur noch äußerst geringe Konzentrationen an radioaktiven Stoffen auf. (Lesen Sie auch: Die unsichtbare Gefahr: Kommunalpolitiker aus dem Ostallgäu erinnern sich an die Reaktorkatastrophe)

Auswirkungen von Tschernobyl auf das Allgäu: Bis heute belastete Wildschweine und Pilze
In Mooren beispielsweise sieht die Sache allerdings anders aus: Da sie kaum Material an die Umgebung absondern, verbleiben die abgelagerten radioaktiven Stoffe dort.
Und auch der Wald speichert diese Stoffe: Die im Boden nahe der Oberfläche ursprünglich eingedrungene Radioaktivität wird nach Aussage des LfU-Sprechers über die Wurzeln der langlebigen Pflanzen aufgenommen und im Herbst über den Laubfall durch Humusbildung dem Waldboden erneut zugeführt. Die Messergebnisse in Waldpilzen, -beeren und Wildfleisch zeigen noch eine große Schwankungsbreite.
Vor allem Wildschweine suchen laut Bayerischem Jagdverband im Gegensatz zu anderen Wildtieren einen Großteil ihrer Nahrung im Boden. Messwerte über dem Grenzwert von 600 Becquerel Radiocäsium pro Kilogramm (Bq/kg) seien bei den Tieren keine Seltenheit, teilte der Verband mit, der im Freistaat 124 Messstationen betreibt. Im Landkreis Ostallgäu etwa wurden bei einem Wildschwein 1400 Bq/kg gemessen. Mit den Messungen wird verhindert, dass belastetes Fleisch in den Handel gerät. Die kontaminierten Stücke werden fachgerecht entsorgt. Jäger können beim Bundesverwaltungsamt eine Entschädigung beantragen.
Wildschweine und Pilze sind durch Tschernobyl zum Teil noch radioaktiv belastet
Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) gibt jährlich einen Bericht zur Radioaktivitätsuntersuchung von Wildpilzen und Wildschweinfleisch heraus. Im aktuellsten Bericht von 2018 heißt es, dass das LGL von 127 untersuchten Wildschweinproben aus dem Handel bei zwei Proben eine Überschreitung des EU-Grenzwertes feststellte. Die Wildschweinprobe mit dem höchsten Radiocäsiumgehalt von 3495 Bq/kg stammte aber nicht aus dem Handel, sondern direkt von einem Jäger.
Bei den Pilzen stellte das LGL fest, dass von 135 Wildpilzproben, von denen 98 aus bayerischen Wäldern stammten, Steinpilze und Pfifferlinge keine Grenzwertüberschreitungen aufwiesen. Bei den Maronenröhrlingen allerdings überschritten zwei Proben den EU-Radiocäsiumgrenzwert von 600 Bq/kg. Bei den sonstigen Pilzproben lagen zwei Proben Weißer Rasling über dem Grenzwert.

Da Wildfleisch und Wildpilze jedoch nicht zu den Grundnahrungsmitteln gehören, werden sie im Regelfall nur in relativ geringen Menen verzehrt, wie es im aktuellen Strahlengygienischen Jahresbericht 2019 des Bayerischen Landesamts für Umwelt heißt. Die hierdurch verursachte Strahlenbelastung falle deswegen vergleichsweise gering aus. (Lesen Sie auch: Wie Menschen aus Kempten Kindern aus verstrahlten Gebieten halfen)
Wo ist die radioaktive Belastung höher: Auf den Bergen oder im Tal?
Auch im Holz beziehungsweise in der Asche bleiben radioaktive Elemente zurück. Im Gegensatz zu Wildfleisch gibt es laut des LfU-Sprechers allerdings keinen Höchstwert der Aktivitätskonzentration für Brennholz. Doch beim LfU in früheren Jahren stichprobenartig durchgeführte Messungen einheimischer Hölzer (Holzpellets) ergaben keine Hinweise auf gesundheitsgefährdende Aktivitätskonzentrationen, so der Sprecher. Allgemeingültige Aussagen, ob Tal- oder Gipfellagen stärker von den radioaktiven Stoffen durch Tschernobyl belastet sind, seien übrigens nicht möglich. (mit dpa)
Einzelne Messergebnisse der in Bayern genommenen Proben für die letzten drei Jahre, finden Sie hier. Es kann nach dem Ort der Probenahme (z.B. Landkreis oder kreisfreie Stadt), der Probenart (z.B. Wildpilze), dem Zeitraum (maximal drei Jahre) und dem Nuklid (z.B. Cäsium-137) recherchiert werden. Bitte beachten Sie, dass es sich nur um stichprobenartige Messungen handelt.
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