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Altes trifft Neues in Kempten: Durch dieses Wohnquartier weht Weberei-Flair

Preisgekrönte Baukultur im Allgäu

Altes trifft Neues in Kempten: Durch dieses Wohnquartier weht Weberei-Flair

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    Das Stahlraster der ehemaligen Industriehalle gibt den optischen Rhythmus im Wohngebiet vor. Die Metall-Fassade erinnert an Textilmuster.
    Das Stahlraster der ehemaligen Industriehalle gibt den optischen Rhythmus im Wohngebiet vor. Die Metall-Fassade erinnert an Textilmuster. Foto: Matthias Becker

    Früher ratterten Webstühle an diesem Ort, nun wohnen Menschen hier: In der Sheddach-Halle der ehemaligen Weberei am Illerufer in Kempten sind 46 Loftwohnungen entstanden, die ein spezielles Flair in einer besonderen Architektur bieten. Dabei hätte auch alles anders kommen können – wären da nicht ein Bauherr (Sozialbau Kempten) und ein Architekturbüro (Hagspiel/Stachel/Uhlig) gewesen, die mit pfiffigen Ideen, einer großen Portion Idealismus und einem langen Atem einen Gutteil der denkmalgeschützten alten Bausubstanz erhalten und etwas Neues geschaffen hätten. Inzwischen wurde das Projekt in Fachzeitschriften beschrieben und mit Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Bauherrenpreis. Dessen Jury lobte den Umbau als beispielhaft für den Umgang mit Baudenkmälern, deren ursprünglicher Nutzungszweck entfallen ist.

    Wer in das 60 mal 60 Meter große Wohnquartier, hineinspaziert, dürfte sich vom ersten Moment an über diesen reizvollen Ort wundern. Altes trifft auf Neues, beides verschmilzt zu einer modernen, originellen und ansprechenden Architektur. Die historische Stahlkonstruktion der 1897 erbauten Weberei mit den gusseisernen Säulen haben die Planer erhalten. Sie gibt den optischen Rhythmus und zugleich das Raster für die Wohnungen in unterschiedlichen Größen von 50 bis 135 Quadratmetern vor.

    So sieht das Wohnquartier Sheddachhalle aus der Vogelperspektive aus.
    So sieht das Wohnquartier Sheddachhalle aus der Vogelperspektive aus. Foto: Ralf Lienert

    Der eiserne Rahmen und die Außenmauern aus Ziegel wären wohl verschwunden, hätten sich – nach längerem Leerstand durch den Niedergang der Textilindustrie und wegen anderweitiger Planungen – nicht Sozialbau-Chef Herbert Singer sowie die Architekten Hermann Hagspiel und Robert Stachel des denkmalgeschützten Bauwerks angenommen. Wer mit ihnen durchs Quartier geht, hört von den Gefühlslagen, die sie beim Umbau von 2016 bis 2019 bewegten. Es sei „ein sehr interessantes Wohnen in einem interessanten Gebäude“ entstanden“, sagt Hagspiel. Singer ergänzt: „Es war ein gewagtes Projekt.“ Herbert Singer kann sich an dem 15-Millionen-Euro-Projekt regelrecht berauschen. Nachhaltig und spektakulär, cool und urban sei das Wohnquartier geworden, sagt er, verrät aber zugleich, dass ihm die Planung und Ausführung manch schlaflose Nacht bereitet habe. „Das war eine Mega-Herausforderung.“

    Gern werden Gebäude abgerissen. Fürs Klima ist das schädlich

    Immerhin haben er und die Architekten Hagspiel und Stachel bewiesen: Man kann aus 130 Jahre alten Bauwerken was machen. Denn immer noch werden in die Jahre gekommene Gebäude gern abgerissen, damit Neues entstehen kann. Obwohl auch die Branche inzwischen weiß, dass der Erhalt von Substanz dem Klima mehr helfen würde als das Wegmachen. Hagspiels Kemptener Kollege Jörg Heiler, Vorsitzender des Bundes Deutscher Architekten in Bayern, sagte vor einiger Zeit in einem Interview mit unserer Redaktion: „Wir reißen bei uns nach wie vor zu viele Gebäude mit einem hohen kulturellen und geschichtlichen Wert ab. Bestandsbauten müssen keine Last sein, sondern sie sind ein Potenzial.“

    Arbeiteten Hand in Hand: Bauherr Herbert Singer (links) von Sozialbau Kempten und Architekt Hermann Haspiel. Im Hintergrund die Fassade, die zur Iller weist.
    Arbeiteten Hand in Hand: Bauherr Herbert Singer (links) von Sozialbau Kempten und Architekt Hermann Haspiel. Im Hintergrund die Fassade, die zur Iller weist. Foto: Matthias Becker

    Herbert Singer und Hermann Hagspiel verschweigen nicht, dass das Potenzial in harter Arbeit erschlossen werden musste. Dass sie und ihre Teams immer wieder kontroverse Diskussionen geführt haben, um zu guten Lösungen zu kommen. Das strenge Raster der Stahlkonstruktion hat ihnen einen engen Rahmen vorgegeben – und viele Nüsse zum Knacken. „Wir wollten aber keine faulen Kompromisse machen“, betont Architekt Hagspiel.

    Nachdem sie die Gussstahl-Stützen demontiert, entrostet, lackiert und wieder einsetzt hatten, bauten sie Maisonette-Wohnungen mit Galerien hinein, samt Oberlichtern wie einst im Sheddach der Weberei. Die Wohnzimmer blieben nach oben hin offen und bieten einen Loft-Charakter. Den angenehmen Gassenraum schaffen einerseits Fassaden, andererseits Pflanztröge.

    Blick in ein Wohnzimmer: Das Raster und die Oberlichter erinnern an die einstige Shedhalle, die hier stand.
    Blick in ein Wohnzimmer: Das Raster und die Oberlichter erinnern an die einstige Shedhalle, die hier stand. Foto: Ralf Lienert

    Apropos Fassade: Sie besteht im Inneren aus einem bronzefarbenen Meshgewebe, das wie ein Textilmuster wirkt und an die einstige Nutzung der Halle erinnert. Hergestellt ist es aus eloxiertem, wartungsfreundlichem Streckmetall. Das sei zwar 400.000 Euro teurer gewesen als einfach weißer Putz. „Aber wir wollten bewusst diese Qualität“, erläutert Herbert Singer. Man habe oft miteinander gerungen, sagt der Sozialbau-Chef und erklärt das erfolgreiche Zusammenarbeiten so: „Wir als Bauherr müssen einen Sinn für Architektur mitbringen, die Architekten einen Sinn für die Kosten.“ Oft ging Singer selbst auf die Baustelle, um Strittiges mitzuentscheiden. „Er hat sehr viel für Baukunst übrig – zu unserem Glück“, lobt Hagspiel.

    Hier musste der Architekt auch mal einen Kompromis machen

    Ganz ohne architektonische Kompromisse ging es freilich nicht. So wurden etwa an den Außenfassaden, wo meist noch der dekorative Ziegel von 1897 zu sehen ist, kleine, grazil wirkende Stahlbalkone angebracht. „Ohne sie wären die Wohnungen schlecht zu vermieten“, sagt Singer.

    Am Ende haben sein Sozialbau-Team und Hagspiels Architektenbüro wohl so ziemlich alles richtig gemacht. Egal mit welchem Bewohner man redet, alle zeigen sich begeistert von der Architektur, die das Private (Wohnungen), das Halböffentliche (Terrassen mit Essplätzen) und das Öffentliche (Wege und Plätze) klug kombiniert. „Wir sind total glücklich hier“, sagt etwa Sarah Hipp. Niklas Schmidt ergänzt: „Das Konzept funktioniert. Das ist alles genial.“

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