Der SPD-Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans zeigt sich vom derzeitigen Aufwind seiner Partei nicht überrascht. Die guten Umfragewerte führt er auf das Wahlprogramm der SPD zurück – und auf die Fehler der anderen, insbesondere von Armin Laschet. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt er, warum er im Wahlkampf nicht so omnipräsent ist wie andere Parteivorsitzende und wie er zu einer möglichen Koalition mit den Linken steht. Außerdem äußert er sich über die Rolle, die er zukünftig spielen will.
Wenn man Ihnen vor einem Jahr die aktuellen Umfragewerte der SPD gezeigt hätte: Hätten Sie es geglaubt?
Walter-Borjans: Ja. Ich habe schon damals 25 bis 30 Prozent für machbar gehalten und bin dafür belächelt worden. Die Leute wissen, dass große Veränderungen anstehen, sei es in Sachen Klima, Digitalisierung oder Migration und auch in vielen anderen Bereichen. Da braucht man Personen, in die man Vertrauen setzen kann und die sich auch auf dem internationalen Parkett bewegen können. Die Leute haben gemerkt, dass Olaf Scholz das verkörpert. Weit vor einer Wahl mögen ja besonders die Parteien punkten, die sich ganz auf ein Thema fokussieren: Klima, Wirtschaft oder Soziales. Je näher es dem Schluss zugeht, desto größer wird das Vertrauen in die, die diese Schwerpunkte zusammenbringen können. Dafür steht die SPD.
Was ist ausschlaggebend für die Trendwende zugunsten der SPD – Ihr Wahlprogramm oder die Fehler der anderen?
Walter-Borjans: Beides. Wir wollten Lesbarkeit und Inhalte eher auf 80 Seiten als auf 300 und haben das in einem Prozess mit der ganzen Partei und darüber hinaus entwickelt. Darauf gab es von Anfang an viele positive Rückmeldungen. Die Fehler von Armin Laschet wiederum haben ihn gezeigt, wie er ist: Die Leute hätten es bemerkt, wenn sein Ungeschick nur unglücklicherweise ein falsches Bild erzeugt hätte. Seine Patzer werfen ein Licht auf seinen fahrigen Umgang mit existenziell wichtigen Themen.

Andere Parteivorsitzende sind im Wahlkampf sehr präsent. Von Ihnen und Saskia Esken ist weniger zu hören. Mit Kalkül?
Walter-Borjans: Ich nenne das inzwischen ,#Verstecktour2021’. Aber tatsächlich war ich bis auf Rheinland-Pfalz, wo ich noch Auftritte habe, schon in jedem Bundesland. Uns ist klar, dass es jetzt auf den Kanzlerkandidaten ankommt, die Menschen sollen sich mit dem Mann beschäftigen und identifizieren, der künftig die Richtlinien der Politik bestimmen soll. Saskia Esken und ich sehen unseren Beitrag in der Präsenz vor Ort. Die Ideen entstehen gemeinsam, Vorschläge werden immer aus Sicht der oder des anderen mitgedacht.
Sie sehen die Partei als Team. Welche Rolle werden Sie in diesem Team spielen, wenn es tatsächlich zu einer Regierung unter Scholz kommt?
Walter-Borjans: Wir wollen eine Regierung unter Führung der SPD, dafür arbeiten wir. Die Frage nach den Ressorts stellt sich erst später. Mich treibt nicht die persönliche Ambition für ein Amt, sondern die Partei zu einer Einheit zu machen und das zu erhalten. Dabei hilft, dass ich schon viel gemacht und erreicht habe – nicht nur im Bereich Finanzen, sondern auch in der Wirtschaft. Regionale Wirtschaftspolitik hat mich schon immer fasziniert. In Köln stehen Unternehmenszentralen, die ich für die Stadt gewonnen habe. Das ist sichtbarer als das in meiner NRW-Finanzministerzeit geschlossene Haushaltsloch.
Viele setzen derzeit Olaf Scholz mit Angela Merkel gleich und sagen, er stehe für ein „Weiter so“. Was würde sich unter einer SPD-geführten Regierung als Erstes ändern?
Walter-Borjans: Olaf Scholz steht für Kontinuität, aber – das ist der Unterschied – im Wandel. Der Wandel kommt so oder so. Es geht darum, ob nur ganz wenige immens profitieren oder möglichst viele. Angela Merkel, mit der Saskia Esken und ich regelmäßig telefonieren, gebührt Respekt, wie sie in vielen Gesprächen, ob mit Biden und Macron oder Putin und Orban, enormen Einsatz für den internationalen Zusammenhalt geleistet hat. Vielleicht hat deswegen Markus Söder doch nicht in die Kanzlerschaft gedrängt. Das ist nämlich Arbeit, die man nicht im Fernsehen sieht. Andererseits hat sie Vieles liegen lassen. Beim Klima müssen wir sofort anfangen, erneuerbare Energien auszubauen und Genehmigungsverfahren zu verkürzen. Beim Wohnungsbau wollen wir jährlich 400 000 neue Wohnungen, davon 100 000 geförderte. Und die Digitalisierung darf kein Thema fürs Schaufenster sein. Es geht um Netzabdeckung, Hardware, Software und vor allem um kreative Pragmatiker in den Behörden.

Im Allgäu gibt es viele mittelständische Betriebe, gerade auch in der gebeutelten Tourismus-Branche. Einige Unternehmer fürchten, dass mit der SPD höhere Steuern auf sie zukommen. Was sagen Sie diesen Arbeitgebern?
Walter-Borjans: Ich spreche oft vor der mittelständischen Wirtschaft. Da sage ich gern ironisch ,Guten Tag, ich bin der Linksrutsch’ und ernte Heiterkeit. Ich stehe zu einem Mindestlohn von zwölf Euro und zu bezahlbaren Mieten. Gleichzeitig wollen wir 95 Prozent der Menschen im Land steuerlich entlasten. Zur Wahrheit gehört, dass dann Großvermögende einen höheren Beitrag leisten müssen. Die Grenze zu dieser Schicht läge bei 100 000 Euro Reingewinn im Single-Haushalt, bei 200 000 für Paare. Gewinn, nicht Umsatz!
Die Argumentation der Linkspartei in dieser Frage klingt in Teilen ähnlich. Wie stehen Sie zu einer möglichen Koalition mit den Linken?
Walter-Borjans: In Bezug auf Haushalte mit kleinen Einkommen gibt es sicher Übereinstimmungen, aber was die Linken da vorschlagen, ist überzogen und in der Konsequenz nicht akzeptabel. Bei uns gibt es die guten Absichten in machbar, und die nicht akzeptablen gar nicht. Ich lasse mir aber keine Gespräche von CDU oder CSU verbieten, die damit nur ihre eigene Verhandlungsposition verbessern wollen. Eine starke NATO steht für uns außer Frage. Ohne ein Bekenntnis dazu gäbe es keine Einigungsgrundlage. Aus diesem Thema ein Schreckensszenario zu machen, ist nicht nur unbegründet, sondern soll von anderen, existentiell wichtigen Fragen ablenken, denen sich CDU und CSU nicht stellen wollen.
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