Drei Jahre ist der erste Corona-Fall im Allgäu nun her. Jetzt geht es um die Aufarbeitung.
Bild: Ralf Lienert
Drei Jahre ist der erste Corona-Fall im Allgäu nun her. Jetzt geht es um die Aufarbeitung.
Bild: Ralf Lienert
Ende Januar 2020 ist der erste Corona-Fall in Deutschland nachgewiesen worden. Einen Monat später ist das Virus auch im Allgäu angekommen. Am Abend des 29. Februar stand fest: Ein Mann aus Füssen hat sich angesteckt. Er war bei Deckel Maho in Pfronten beschäftigt. Aus „Gründen der Fürsorge gegenüber den Arbeitnehmern“ hatte der Betrieb damals beschlossen, das Werk im Ostallgäu für einige Tage zu schließen. Viel mehr passierte zunächst nicht. Doch kaum zwei Wochen später begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Es folgten unter anderem Lockdowns, Maskenpflicht und Zugangsbeschränkungen.
Drei Jahre ist das nun her. Mittlerweile gehören nahezu alle Corona-Regeln, die seither erlassen wurden, der Vergangenheit an. Selbst in Bussen und Bahnen sind Masken nicht mehr verpflichtend, tragen müssen sie fast nur noch Besucher medizinischer Einrichtungen. Das ehemalige Impfzentrum in Marktoberdorf ist jetzt eine Notunterkunft für Geflüchtete. Auch die meisten Testzentren sind nun geschlossen. In der Kemptener Disco „Parktheater“ ist die Tanzfläche wieder zum Tanzen da, und nicht, um Abstriche zu machen. Denn Tests sind kaum noch gefragt: Für Geschäfte, Restaurants und Konzerte braucht es keinen 3- oder gar 2G-Nachweis mehr.
Insgesamt sind laut Robert-Koch-Institut knapp 1300 Menschen in der Region an oder mit dem Virus gestorben, die Gesamtzahl der Infektionen beläuft sich auf fast 350.000. Ende März vergangenen Jahres meldeten alle Landkreise und kreisfreien Städte im bayerischen Allgäu Sieben-Tage-Inzidenzen von über 2000. Inzwischen hat sich die Lage wieder beruhigt, auch wenn die Krankheit noch immer da ist. In Kaufbeuren liegt der Wert derzeit bei 155, die niedrigste Inzidenz mit 63 meldet der Landkreis Lindau.
Fast vergessen scheint mittlerweile die Zeit, in der es nicht möglich war, einfach so über die Grenze ins benachbarte Österreich zu fahren oder als die Kontaktbeschränkungen so streng waren, dass sich nicht einmal eine handvoll Menschen im privaten Kreis zu einer Geburtstagsfeier treffen durften. In der die Schulen geschlossen waren und sich vor den Impfzentren lange Schlangen bildeten.
Jetzt geht es um die Aufarbeitung und darum, aus der Vergangenheit zu lernen: Was lief richtig, was falsch? Welche Regeln waren notwendig, wo sind Gesetzgeber oder Verantwortliche über das Ziel hinausgeschossen? Was würde man genauso wieder machen – und welches Vorgehen sollte nicht wiederholt werden?
„Wir würden fast alles genauso wieder machen“, sagt Ley Kothe. Die Oberallgäuerin war die Hauptorganisatorin der Corona-Spaziergänge in Kempten. Probleme habe es in jener Zeit gegeben, in der immer mehr Menschen zu den Demos kamen, es aber keine Genehmigung dafür gab. „Wir wollten ohne Masken laufen, gestattet wurden stationäre Versammlungen mit FFP2-Maske. Das ging einfach nicht zusammen.“
Rückblickend hätte es von allen Seiten mehr Gesprächsbereitschaft gebraucht, sagt Ley Kothe. „Wir hätten manchmal stärker berücksichtigen können, dass viele einfach Angst vor der Krankheit hatten. Dennoch rechtfertigt das in keinster Weise den Umgang mit den Spaziergängern und die Versuche, den Protest niederzuschlagen.“ Nun fordert die Oberallgäuerin eine reflektierte Aufarbeitung der Geschehnisse. Die Maßnahmen seien überzogen gewesen. Ein „wir haben es damals nicht besser gewusst“, will Kothe nicht gelten lassen. „Es gab auch immer kritische Experten, allerdings wurde ihnen die öffentliche Debatte verwehrt.“
„Die Impfung war extrem wichtig. Sie war ein Segen“, sagt der Leiter des Herzzentrums Ostallgäu-Kaufbeuren, Dr. Marcus Koller, rückblickend. Der Chefarzt war während der Pandemie Ärztlicher Direktor des Kaufbeurer Klinikums – und täglich mit Corona konfrontiert. Jetzt, mit etwas Abstand, sehe er aber, dass die Impfpflicht für Klinik-Beschäftigte wohl nicht richtig war. Obwohl er sie damals befürwortet habe, habe diese den ohnehin stark belasteten Mitarbeitern noch eine zusätzliche Bürde aufgedrückt. Lieber hätte es keine Impfpflicht geben sollen, als nur eine Einrichtungsbezogene, sagt er.
Für alternativlos und eine richtige Entscheidung der Politik hält er nach wie vor die Lockdowns zu Beginn der Pandemie: „Es war klar, dass das Virus höchst ansteckend ist.“ Kontakte mussten zu dieser Zeit reduziert werden. Auch in den Kliniken – obwohl das in manchen Fällen schwer war, gibt Koller zu. Man habe aber bei Angehörigenbesuchen von Schwerstkranken oder bei Geburten durchaus Ausnahmen gemacht.
„Corona hat uns mit seinem pandemischen Verlauf maximal gefordert. Auch im Nachhinein war es aus unserer Sicht richtig, die alten Menschen intensiv zu schützen. Obwohl die Zugangs- und Kontaktbeschränkungen und die damit zusammenhängende Vereinsamung sehr belastend waren und auch uns manches Mal ans Herz ging“, sagt Brigitte Protschka. Die Füssenerin ist Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Schwaben und kennt sich in den Seniorenheimen der Region aus.
Die Impfpflicht für Mitarbeitende in den Pflegebereichen, sagt sie, sei ebenfalls wichtig gewesen. Nicht nur den Senioren hätte bei einer Ansteckung Gefahr gedroht. „Ein massiver Personalausfall durch hohe Infektionszahlen hätte schwerwiegende Auswirkungen auf die Pflege haben können“, sagt Brigitte Protschka. „Eigentlich kann man physische und psychische Belastungen nicht gegeneinander aufwiegen. Und wer mag am Ende beurteilen, ob es besser gewesen wäre, wenn wir es anders gemacht hätten?“
„Die Überschrift lautete damals, dass wir Menschenleben schützen müssen“, sagt der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU, Memmingen). Die Lage sei zu Beginn der Pandemie sehr schwierig gewesen: „Wir hatten keinen Impfstoff und keine Schutzausrüstung, nichts war da.“ Heute sagt Holetschek, dass „wir es ganz gut hingekriegt haben“. Diese Meinung teilten laut einer Umfrage etwa 70 Prozent der bayerischen Bürgerinnen und Bürger.
Allerdings gebe es auch Entscheidungen, die man heute so wohl nicht mehr treffen würde: „Es gibt neue Erkenntnisse, dass Schließungen von Schulen und Kindergärten die psychische Gesundheit von Kindern negativ beeinflusst haben.“ Eine weitere Lehre aus der Pandemie sei, dass „wir bessere Datengrundlagen brauchen. Hier geht es zum Beispiel um die Frage, wann welcher Impfstoff, für welche Altersgruppe empfohlen werden kann“. Ein weiteres, bundesweites Thema sei die Digitalisierung in den Gesundheitsämtern: „Während der Pandemie wurde ja teilweise noch mit Fax gearbeitet.“
Wechselunterricht, Online-Unterricht, Unterricht mit Masken und offenen Fenstern oder gar kein Unterricht. Die Schulen haben alles durchgemacht. „Wir werden noch auf Jahre hinweg die Nachwirkungen spüren, im Lernbereich und auch im sozialen Bereich“, sagt Erich Dietrich, Direktor des Marianum-Gymnasiums in Buxheim bei Memmingen. „Für Schüler, Lehrer und Eltern war die Belastung durch die Pandemie stark erhöht“, fasst der Schulleiter zusammen. Es gäbe immer noch Wissenslücken, „besonders in Fächern, die aufeinander aufbauen, wie Sprachen oder Mathematik“.
Im digitalen Bereich hätten Schüler und Lehrer sich dafür enorm verbessert. „Alle Lehrkräfte, auch die Älteren, nutzen inzwischen digitale Mittel im Unterricht.“ Zu den Schulschließungen sagt Erich Dietrich: „Manchmal waren so viele Lehrkräfte krank, dass Regelunterricht ohnehin nicht möglich gewesen wäre.“ Seine Lehre aus der Pandemie: „Der Wert des Präsenzunterrichts lässt sich durch nichts ersetzen.“
„Der Einzelhandel hat sich ganz gut von der Pandemie erholt“, lautet Niklas Ringeisens Fazit. Er ist Geschäftsstellenleiter des City Managements Kempten, das die Innenstadt attraktiver machen und beleben soll. „Die Befürchtung, die ganze Innenstadt würde aussterben, ist nicht eingetreten.
Mittlerweile stehen sogar weniger Geschäfte leer als vor Corona“, sagt er. Kritik übt Ringeisen am zweiten Lockdown im Winter und Frühjahr 2020/2021: „Die Geschäfte hatten gute Konzepte entwickelt und mussten dann trotzdem wieder schließen. Ich finde, da hat die Politik überreagiert.“ Zudem bemängelt er den dann folgenden Schlingerkurs: „Dieses ständige Hin und Her, da wusste niemand mehr: Was gilt wann für wen?“
Was für den Einzelhandel von der Pandemie bleibt, sei die Koppelung von digitalem und stationärem Handel: „Geschäfte, die ihr digitales Angebot erweitert haben, profitieren jetzt davon.“ Außerdem schätzten die Kunden den Einzelhandel seitdem mehr für Beratung, Service und das Einkaufserlebnis.