Haben wir als Gesellschaft verlernt zu diskutieren? Zumindest hat sich unsere Debattenkultur seit dem Siegeszug der Sozialen Medien stark verändert. Was Professoren der Hochschule Kempten dazu meinen, lesen Sie hier.
Ja, wobei es im Grunde keine pauschale Antwort auf die Frage gibt, ob wir verlernt haben zu diskutieren. Man wird, Gott sei Dank, immer Menschen innerhalb und außerhalb des eigenen Umfelds finden, mit denen ein zünftiges Streitgespräch möglich ist, von deren Wissen man im besten Fall noch ein kleines Stück mitnimmt und mit denen man trotz Meinungsverschiedenheit auf Augenhöhe spricht. Gerade Letzteres kommt aber kaum noch vor. Egal ob Diskussionen übers Impfen oder den Klimawandel: Wer eine andere Meinung hat, dem wird allzuoft unterstellt, er verstehe das Problem eben nicht, sei halt nicht gut genug informiert, überheblich oder sogar dumm. Anstatt dem Gegenüber zuzuhören und dessen Worte zu verinnerlichen, wird im Kopf schon die Erwiderung zurechtgelegt, wird eigentlich nur auf den passenden Moment gewartet, um wieder den eigenen Senf dazu geben zu können. Dabei könnte man so viel lernen oder zumindest die Argumente der Gegenseite besser nachvollziehen, wenn man einfach mal zuhören würde. Interesse zu zeigen oder sich nach einer Diskussion wieder zusammenzuraufen, scheint vielen einfach nicht mehr nötig: Im Zweifel unterhält man sich eh mit einer fremden Person im Internet, deren Meinung einem eigentlich egal ist. Hauptsache dem eigenen Ärger Luft machen. Simone Härtle
Unser Autor widerspricht: Wir haben nicht verlernt zu diskutieren
Nein. Können Sie sich noch an die Debatten der 1960er, 1970er oder 1980er-Jahre erinnern? Was haben sich die Lager gefetzt, wenn es um die großen politischen Fragen ging. Mit den Grünen wollte niemand reden, als sie 1983 in den Bundestag kamen, und wenn Strauß über die Sozis oder Wehner über die Union hergefallen ist, ging es zur Sache. Aufgeheizt war die Stimmung früher schon oft, wahrscheinlich hatten die Menschen mehr Zeit, sich abzukühlen. Heute wird permanent in irgendeiner Talkshow etwas verhandelt, und wenn man vom TV ins Netz abspringt, geht es dort weiter – je nach Blase viele gegen einen.
Wir haben das Diskutieren nicht verlernt, wahrscheinlich konnten wir das früher auch nicht besser. Denn es ist doch normal, dass wir recht behalten wollen; es kostet Überwindung, die eigene Position zu verändern. Dieser Störfaktor ist heute jedoch offensichtlicher, weil es jetzt nicht mehr eine Bühne am Abend gibt, sondern unzählige. Und weil im Netz jeder ein Wehner oder Strauß sein kann – wobei die Tiraden dieser beiden oft geistreich waren und deren Inhalt einen Sinn hatte. Das Rezept für gute Debatten ist jedoch nicht anders als vor 50 Jahren: Zuhören, um zu verstehen, wie mein Gegenüber denkt. Und sich dann Zeit für den möglichen Erkenntnisgewinn nehmen. Uli Hagemeier