Draußen tobt der Krieg, die Preise für Gas und Strom schießen nach oben, und der Klimawandel lässt uns so stark schwitzen, dass wir ihn nicht mehr ignorieren können. In der kühlen Stille des Hofgartensaals der Kemptener Residenz aber scheint die Welt ganz weit weg zu sein. Hier herrschen nicht die Katastrophen, sondern die Kunst. Die 66 Werke der Ausstellung zur Allgäuer Festwoche spiegeln die torpedierte Gesellschaft so gut wie nicht wieder. Allenfalls ein Echo des Knirschens ist in einigen Arbeiten zu vernehmen.
Man kann das eigenartig finden, wenn sich die Kunst so wenig als Seismograf der Verwerfungen versteht. Andererseits hat sie sich immer schon dem Zickzackkurs der Tagesaktualität verweigert. Kunst ist in erster Linie – Kunst. Und von ihr gibt es in diesem barocken Saal, in den Jury-Mitglied Axel Städter (Memmingen) als Kurator die Gemälde, Fotografien, Zeichnungen, Plastiken, Objekte und Installationen stimmig gehängt und gestellt hat, viel Schönes, Anregendes, Lustiges, Rätselhaftes und Unverständliches zu entdecken.

Das beginnt schon bei den prämierten Werken. Etwas eigentlich völlig Banales hat die sechsköpfige Experten-Jury mit dem Kunstpreis der Stadt Kempten ausgezeichnet (verbunden mit 5000 Euro): ganz gewöhnliche Papierhandtücher. Diese hat die 1989 in Memmingen geborene und nun in Leipzig lebende Julia Miorin freilich geadelt, indem sie sie in – selbst gebauten – Vitrinen präsentiert wie wertvolle historische Objekte. Miorin, die bereits den Kemptener Förderpreis und das Ausstellungsstipendium erhielt, möchte Gegenstände aus ihrer alltäglichen Erzählung reißen und neu verorten. Sie greift bei diesem kunstvollen Spiel mit Farben, Formen und Anordnungen die Ready-Made-Tradition auf, eine der Hauptströmungen moderner Kunst des 20. Jahrhunderts.
Skulptur zum Schmunzeln: Cornelia Brader aus Memmingen stellt ein Pferd auf ein Futtersilo
Das Spiel mit Umdeutungen betreiben auch etliche andere der 52 Künstlerinnen und Künstler, deren Werke die Jury in diese große Allgäuer Überblicks-Ausstellung genommen hat (147 hatten sich dafür beworben). Etwa Cornelia Brader. Die 48-jährige Memmingerin lässt mit ihrer Skulptur „Cruisin’ I“ die Betrachter schmunzeln: Sie stellte ein Pferd auf ein Futtersilo (in der Variation „Crusin’ II“ fährt das Pferd auf einem Pritschenwagen mit). Eine surreale, die Fantasie anregende Szene. Doch es lohnt sich – wie so oft – das genaue Hinschauen: Wie präzise Brader Pferd und Silo aus einem Stück Lindenholz herausschälte und dennoch eine gute Portion Rohheit beließ, faszinierte auch die Jury, die ihr den mit 4000 Euro dotierten Thomas-Dachser-Gedenkpreis zusprach.
Keine Frage: In Vero Haas reift ein Talent heran
Die dritte Preisträgerin der Festwochen-Ausstellung, Vero Haas, führt dagegen die Riege der leisen, meist grafischen Arbeiten an, von denen es diesmal erstaunlich viele mit ausgefallenen Ideen gibt. Die 29-Jährige, die in Krugzell (bei Kempten) aufwuchs und an der Universität der Künste in Berlin studiert, hat zwei Zeichnungen eingereicht mit Tusche auf dem Papier eines Ausreißblocks. Sie wirken wie Skizzen, doch Bildgestaltung und Spannung sind durchaus meisterhaft. Die Jury lobte die Schönheit und Stimmigkeit und verlieh ihr den Förderpreis der Zorn-Stiftung (3000 Euro). Inzwischen hat Haas den Förderpreis der Götz-Stiftung in Marktoberdorf erhalten. Dort stellte die Jury ihre sensible Herangehensweise heraus. Haas selbst sagt, sie möchte die Welt intensiv und persönlich betrachten, verarbeiten und sich aneignen. Keine Frage, hier reift ein großes Talent.
Die Porträts von Bernd Walcher: anrührend in ihrer unspektakulären Eindringlichkeit
Von Talent ist sonst wenig zu sehen im Hofgartensaal – weil gar nicht so viele Kunstschaffende unter 40 Jahren vertreten sind. Die meisten sind (deutlich) älter, was gereifte Werke garantiert. Greifen wir ein paar heraus. Da sind etwa die Acryl-Porträts des Memmingers Bernd Walcher: anrührend in ihrer unspektakulären Eindringlichkeit. Ein Suchspiel hat Johann Stefan Wagegg aus Kißlegg in einen Rahmen hineinkonstruiert: Bei „Sand im Getriebe – Vergangene Welten“ hat sich ein Räderwerk festgefahren, während sich daneben schon Ersatz etabliert.

Marc Rogat, 1968 in Kempten geboren und in Donauwörth lebend, hat zwei Waldszenen gezeichnet, in denen er mit grünen, braunen und schwarzen Pastellfarben eine geheimnisvoll-dunkle Stimmung erzeugt. Landschaften und Naturmotive scheinen überhaupt beliebt zu sein. Rund ein Viertel der Arbeiten thematisiert Berge und Wälder von saftig-farbig (Ecke Recla, Heinz Schmidt) bis zu reduziert-abstrakt (Andreas Vogler, Dieter Schmidt).
Und die eingangs erwähnten Echos aus der gebeutelten Welt? Die raumgreifende Beton-Glas-Installation des Kempteners Winfried Becker deutet auf den Ukrainekrieg hin. Er gab ihr den Namen „Sewastopol“ – das ist die größte Stadt auf der Krim-Halbinsel. Anita Kreck (Weitnau) lässt einen Plastikmüllfresser durchs Bild schwimmen; Heike Hüttenkofer (Wald) streift mit einem Ölporträt die Rassismus-Debatte („schwarz oder weiß“); Gabriele Dräger (Bad Wörishofen) mixt mit Acrylfarben einen „Ozon-Cocktail“.
Due Gefahr lauert im Verborgenen: Da ist eine männliche Silhouette zu sehen ...
Und da ist noch der schwarze Wolf im Bild „Noch gut“ von Stipendiums-Preisträgerin Kornelia Kesel. Ein Sinnbild für die vielen Bedrohungen? Nein, nur eine zähnefletschende Kreatur, erklärt die Kemptener Künstlerin. „Die eigentliche Gefahr lauert im Verborgenen.“ Damit meint sie die Präsenz einer männlichen Silhouette, die sie ganz am Rand platziert hat.
- Öffnungszeiten Die Ausstellung läuft bis 11. September (offen Dienstag bis Sonntag sowie am 15. August von 10 bis 18 Uhr). Der Eintritt ist frei.
- Führungen Jeden Sonntag um 13 Uhr gibt es eine öffentliche Führung. Außerdem sind Führungen mit Preisträgerinnen und einer Gebärdensprach-Dolmetscherin geplant.
- Workshops Für Kinder gibt es zwei Workshops unter dem Motto „Kunst unter der Lupe“ (20. August und 10. September jeweils 10 bis 12 Uhr).
- Katalog Zur Ausstellung ist ein Katalog mit allen Werken erschienen.
- Internet www.kempten.de/ausstellungen