Kurz zögerte Robert Domes, als ihm 2018 der Vorschlag gemacht wurde, einen Roman über Alois Roth zu schreiben. Wieder so eine traurige, harte, bisweilen brutale Erzählung aus der Zeit der Nazi-Diktatur? Robert Domes hat bereits einen solchen Roman verfasst. In „Nebel im August“, erschienen 2008, beschreibt er die reale Geschichte eines von den Nazis in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee ermordeten 14-jährigen Jungen mit Mitteln der literarischen Fiktion. Das berührende Buch fand ein großes Echo, wurde verfilmt und auf die Bühne gebracht. Und nun wieder so etwas?
Robert Domes hat dann doch angebissen, denn schnell war für ihn klar: „Die Geschichte von Alois Roth ist ein Geschenk.“
Der Mann lebte in einem ausrangierten Bahnwaggon außerhalb des Dorfes
Der Mann lebte Anfang des 20. Jahrhunderts im Ostallgäuer Dorf Obergünzburg. Genauer gesagt außerhalb des Dorfes auf einem Feld am Hang Richtung Wald. Die Gemeinde quartierte ihn in einen ausrangierten Bahnwaggon ein. Auch sozial war Roth, 1894 als zweiter Sohn des Lamm-Wirts geboren, ein Außenseiter, von der Dorfgemeinschaft eher verachtet als geachtet. Als Kind war Lamm-Wirts Luis ein kluges Kerlchen. Später jedoch geriet er aus unerklärlichen Gründen auf die schiefe Bahn. Mit Gelegenheitsjobs hielt er sich über Wasser. Roth trank gern, wurde zum notorischen Dieb, saß mehrmals im Gefängnis. 1943 ließ ihn die Gestapo verhaften und ins KZ Auschwitz bringen. Im März 1945 starb er im KZ Mauthausen, wohin er im Zuge der Todesmärsche verlegt worden war. Allgemeiner Körperverfall wurde als Todesursache angegeben.
Nun ist der Roman fertig. „Waggon vierter Klasse“ hat Domes ihn genannt, weil die Obergünzburger für ihr Behelfswohnheim am Dorfrand sich 1929 einen dunkelgrünen Bahnwagen einfachster Bauart kauften. Aber Domes hätte es nicht gereicht, nur das tragische Leben und Sterben Roths literarisch nachzuzeichnen. Er schuf eine zweite Hauptfigur, die hoffnungsvoll in ein neues Leben startet. Auch sie hat ein reales Vorbild: 1948 zog eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen in den Waggon, darunter ein jugendliches Mädchen. Martha nennt Domes es im Roman.
Martha, die in Obergünzburg eine neue Heimat finden muss, macht sich auf Spurensuche nach dem scheinbar spurlos verschwundenen Roth. Was für ein Mensch war er? Warum lebte er einsam in diesem Waggon? Sie beginnt nachzufragen. Aber im Ort möchte niemand über Roth und die Nazi-Verstrickungen sprechen. Es gibt Dinge, die man besser ruhen lassen sollte, sagen die Leute. Martha lässt sich davon nicht beirren. Sie will herausfinden, was wirklich passiert ist.
Zwar war Material vorhanden zu Alois Roth. Aber für Robert Domes ging die Recherche erst los - unter anderem in KZ-Gedenkstätten
Das hat auch Robert Domes getan. Als er 2018 von Wilhelm Weinbrenner, der sich in Obergünzburg mit der Dorfgeschichte befasst, das Material über Alois Roth auf den Tisch gelegt bekam, schien alles fertig recherchiert zu sein. „Aber eigentlich ging es erst los“, sagt Domes. Der 60-jährige Autor und Journalist, der aus dem Landkreis Günzburg stammt und mit seiner Familie im Ostallgäuer Irsee lebt, versuchte, das Leben von Lamm-Wirts Luis genauer zu rekonstruieren. Er klapperte die regionalen und überregionalen Archive ab, traf sich mit Zeitzeugen. Und er fuhr nach Polen und Österreich, um die beiden Konzentrationslager der Nazis persönlich kennenzulernen, in die Roth deportiert worden war – Auschwitz und Mauthausen.
„Ich wollte spüren, wie es dort ist“, sagt er. Vier Tage nahm er sich Zeit, ließ sich führen und informieren, aber auch treiben. Was er sah und fühlte, gehe ihm heute noch psychisch und körperlich nach, sagt Domes. „Und darüber zu schreiben war ebenfalls schwer.“
Warum Roth ins KZ kam, hat Domes nicht herausfinden können. Dass die Nazis aber Leute wie diesen kleinkriminellen Sonderling aus der Gesellschaft entfernten, sei nichts Ungewöhnliches gewesen. Ihn habe es vielmehr überrascht, dass Roth nicht früher in eines der gefürchteten Lager deportiert wurde, schließlich hätten die Nationalsozialisten Menschen wie ihn als Berufsverbrecher, Arbeitsscheue und Asoziale diskriminiert. Domes vermutet, dass jemand, vielleicht der Bürgermeister, seine schützende Hand über den gesellschaftlichen Außenseiter hielt – und ihn irgendwann doch nicht mehr schützen konnte.
Es ist aber mehr als nur eine Spurensuche, die Domes mit „Waggon vierter Klasse“ unternimmt. Er will parallel zu all den fiktiven Zutaten zeigen, wie die bäuerlich-ländliche Dorfgesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts ganz real funktionierte. Welche sozialen Mechanismen wirkten, welches Denken die Menschen bestimmte.
Robert Domes geht der Frage nach, wie die nationalsozialisten Politik und Gesellschaft durchdringen konnten
Und natürlich geht er der Frage nach, wie die Nationalsozialisten Politik und Gesellschaft durchdringen konnten, wie und warum sie willige Helfer fanden, wen sie wie zum Opfer machten. Eine Aufgabe, die auch 76 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht obsolet geworden ist. Man braucht nur die vielen Romane anzusehen, die immer noch über diese dunkle Zeit geschrieben werden, jüngst etwa „Dunkelblum“ von Eva Menasse. Aber auch was die penible Aufarbeitung der Fakten anbelangt, gibt es noch viel zu tun. In Kempten etwa ist gerade eine Kommission gegründet worden, die die NS-Zeit endlich genauer analysieren soll.
Auch wenn Robert Domes einen Blick auf Obergünzburg wirft: Das Dorf will er nur als Beispiel für andere Orte verstanden wissen. Wie anderswo auch wurde lange über Alois Roths Fall geschwiegen. Keiner habe nachgefragt oder Anklage erhoben. Doch egal, was für ein Mensch Roth war: Niemand sei zu Recht im KZ gewesen, sagt Domes. Niemand sei zu Recht ermordet worden. Übrigens hat erst 2020 der Bundestag beschlossen, dass auch jene als Opfer des NS-Regimes anerkannt werden, die als Berufsverbrecher, Asoziale und Arbeitsscheue gebrandmarkt und in Konzentrationslager gebracht wurden.
Der Roman von Robert Domes könnte den Opfern eine Stimme geben
Robert Domes’ neuer Roman könnte ihnen eine Stimme geben. Nicht nur faktisch, sondern auch literarisch hätte er das Zeug dazu. Raffiniert verschränkt er die beiden Erzählstränge miteinander, Marthas Spurensuche und Roths Leben. Domes findet erneut eine klare, einfühlsame, berührende Sprache und einen angemessenen Ton für die Gefühlslagen seiner Protagonisten. Er versteht es, Spannung aufzubauen und vermeidet Schwarz-Weiß-Malerei: Die Guten können auch böse sein, die Bösen auch gut.
„Waggon vierter Klasse“ erscheint wieder im Münchner Kinder- und Jugendbuchverlag cbj. Dass er in dieser Sparte eingeordnet wurde, liege am Erfolg seines Erstlings „Nebel im August“, der ebenfalls bei cbj herauskam, 50.000 Mal verkauft wurde und zum „Longseller“ wurde. Vor allem an Schulen wird die Romanbiografie des jenischstämmigen Jungen Ernst Lossa nach wie vor gelesen. Das soll auch beim „Waggon“ so werden. Schon ist der Verlag zusammen mit dem Autor dabei, Unterrichtsmaterial zu konzipieren. Gleichwohl sei der Roman kein Jugendbuch, sagt Domes. „Ich habe ihn auch für Erwachsene geschrieben.“
Robert Domes: Waggon vierter Klasse. cbj. 390 Seiten, 10 Euro.