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Schulsport, Übergewicht, Bewegungsmangel, Kinder, Schule, Sportlehrer: „ Wir erleben krasse Fälle“

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Sportlehrer: „ Wir erleben krasse Fälle bei Kindern“

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    Durch Sport lässt sich auch die Konzentration verbessern, sagen Experten.
    Durch Sport lässt sich auch die Konzentration verbessern, sagen Experten. Foto: Lukas Huber (Symbolbild)

    Die Beispiele sind drastisch. Günther Felbinger erzählt von Grundschülerinnen und Grundschülern, die nicht rückwärts laufen können, geschweige denn einen Purzelbaum beherrschen. „Wir erleben immer häufiger krasse Fälle. Das ist erschreckend“, sagt der Präsident des bayerischen Sportlehrerverbandes auf Anfrage unserer Redaktion. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Ansgar Schwirtz von der TU München: „Der Mangel an Bewegung ist eine sehr große Bedrohung für unsere Kinder und Jugendlichen“, sagte der Wissenschaftler vor Kurzem bei einer Expertenanhörung im Bildungsausschuss des Bayerischen Landtags. Eine Entwicklung, die auch das Allgäu erreicht hat. „Auch bei uns sind viele Kinder leider motorisch deutlich schwächer als früher“, beobachtet Reinhard Gansert, Leiter des Bewegungsprojekts „Kinder-Knaxiade“ des schwäbischen Turnverbandes.

    Bewegungsmangel: Unterschied zwischen Stadt und Land

    Oftmals fällt Gansert ein Unterschied zwischen Stadt- und Landkindern auf. „Kinder brauchen Platz zum Toben. In der Stadt geht das leider nicht so leicht wie auf dem Land. Umso mehr müssen wir Erwachsenen auf ein vielfältiges Angebot achten. Das gilt für Eltern genauso wie für Kitas und Schulen.“ In dieselbe Kerbe schlägt Sportlehrer Felbinger: „Um die Defizite auszugleichen, bräuchten wir eigentlich eine Stunde Sport am Tag in jeder Klasse.“ Da sich dies politisch kaum umsetzen lassen wird, fordert er zumindest eine Viertelstunde Bewegung vor Schulbeginn. „Andere Länder, zum Beispiel Südafrika, kriegen das hin.“ Er geht sogar noch einen Schritt weiter: „Sport sollte zum Vorrückungsfach an weiterführenden Schulen werden.“ Damit würde die Bedeutung des Faches sowohl an den Schulen als auch bei den Schülern selbst gestärkt.

    Es gehe darum, den Schülerinnen und Schülern ein realistisches Bild ihrer Leistung zu vermitteln. „Das passiert in anderen Fächern wie Mathematik doch auch.“ Eine schlechte Note solle nicht demotivierend wirken, sondern ein Ansporn sein: „Du kannst es besser, wenn Du dich anstrengst.“ In ersten Klassen sollte die Zahl der Sportstunden von zwei auf drei erhöht werden. „Diese dritte Stunde sollte Förderunterricht sein. Manchen Kindern fehlt es an Basics. Wenn ein Schüler zum Beispiel keinerlei Körperspannung hat, scheitert er am Purzelbaum.“

    Experte: "Bewegung gehört zwingend zu einer gesunden Entwicklung"

    Die individuelle Vermittlung von Kompetenzen sieht Susanne Tittlbach von der Universität Bayreuth als Schlüssel: „Wir müssen es schaffen, mehr Breite in den Sportunterricht zu bekommen“, sagte sie im Bildungsausschuss. Bislang hätten sportliche Kinder klare Vorteile, während Schülerinnen und Schüler mit einem anderen familiär oder kulturell geprägten Hintergrund Misserfolge erlebten. Auch für Reinhard Gansert geht es darum, „alle Kinder mitzunehmen.“ Häufig berichteten zum Beispiel Erwachsene, dass sie es als Kinder demütigend empfanden, als letzte von den Sport-Assen der Klasse in ein Team gewählt worden zu sein. „So etwas würde ich nie machen. Besser ist es, als Lehrer selbst die Teams zusammenzustellen, um den Schwächeren solche Momente zu ersparen“, sagt Gansert. Er sieht auch die Eltern in der Pflicht: „Bewegung gehört zwingend zu einer gesunden Entwicklung. Studien haben gezeigt, dass sich durch Sport- und Bewegungsspiele Motorik, Koordination und Konzentration erheblich verbessern.“

    An welchen Allgäuer Schulen es besonders sportlich zugeht

    Die Bedeutung von Sport, Bewegung und Ernährung stärker im Bewusstsein zu verankern: Das ist das Ziel des Siegels „Sport-Grundschule“ des Kultusministeriums. Im Allgäu hat dies beispielsweise schon die Grundschule Stiefenhofen (Westallgäu) erhalten. Dort gibt es jährliche Bewegungstage, eine Wintersportwoche oder Schnupperkurse in Sportarten wie Handball. Zudem wird dort streng darauf geachtet, dass die Sportstunden eingehalten werden. „Die Kinder fordern das bei uns sowieso auch ein“, lobt Rektorin Johanna Bötsch den Eigenantrieb der Kinder.

    Der Förderung des Spitzensports im Bereich Skifahren und Eishockey hat sich das Gymnasium Hohenschwangau verschrieben. Das Skiinternat Oberstdorf ermöglicht Athleten aus verschiedenen Wintersport-Disziplinen die Kombination von Leistungssport und Schule. Zu den Absolventinnen zählte beispielsweise Skisprung-Weltmeisterin Katharina Althaus vom SC Oberstdorf.

    Zwölf Bewegungstipps für Kinder von Sportwissenschaftler Prof. Ulrich Nickel (Universität Hildesheim)

    1. (Spielerisches) Laufen: Spielerische Laufformen sind die Nummer eins im Training. Bei Fangspielen etc. fühlt sich das Kind stark – es kann einholen oder entkommen.
    2. Hochspringen/herabspringen: Ein Trampolin verhilft zu hohen Geschwindigkeiten und anregenden Taumelgefühl. U.a. wird die Raumwahrnehmung geschult. Beim Überspringen von Hindernissen wird zudem hohen Konzentration gefördert.
    3. Schaukeln/Schwingen: Wer beispielsweise an einem Seil durch den Raum schwingt, reizt die Sinnesorgane – besonders das Gleichgewicht. Das kommt später bei anderen Bewegungsformen zugute.
    4. Höhe erklettern: Für Kinder ist es wichtig, Höhen aus eigener Kraft zu erreichen. Das schult Kraft und Selbstbewusstsein. Das „Ausschau halten“ hat großen Einfluss auf die Wahrnehmung des dreidimensionalen Raumes. Das Auge überfliegt immer weitere Räume.
    5. Rollen und Drehen: Das Taumeln und die Orientierungslosigkeit beim Rollen und Drehen zu erleben, hilft Kindern das Gleichgewicht zu stabilisieren.
    6. Im Gleichgewicht bleiben: Balancieren auf schmalen Flächen schult Willen und Konzentration. Vielfältige geistige Auseinandersetzung.
    7. Riskante Situationen suchen Kinder kommen beim Sport an ihre Grenzen. Das ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Wer Situationen mit Herzklopfen meistert, lernt sich besser einzuschätzen. Zögernden Kindern ist Zeit zu lassen. Gefährliche Situationen sind zu vermeiden.
    8. Neu Erlerntes vorführen: Für Kinder ist es wichtig, Lernfortschritte selbst zu erkennen und z. B. beim Vorführen vor anderen Kindern den Erfolg selbst zu spüren.
    9. Anstrengen bis zur wohltuenden Erschöpfung: Wenn Kinder selbst bestimmen können, wie lange und wie sehr sie sich anstrengen wollen, hören sie oft erst auf, wenn sie erschöpft sind. Der Körper wird wohltuend anders gespürt. Dieser Effekt hängt u.a. mit einem erhöhten Energiestoffwechsel zusammen.
    10. Rutschen: Glatte Flächen hinabzurutschen oder auf ihnen zu gleiten, bereichert die allgemeine Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit.
    11. Spielen mit Sportgeräten: Kinder im Vorschulalter sehen Turnhallen und Geräte völlig anders als Erwachsene. Der Nachwuchs will spielen und seine Fantasie walten lassen. Gerätekombinationen werden dann zu Häusern, Tunneln, Höhlen, Raumschiffen. Bewegungen bedeuten Flüchten, Verstecken, Einnehmen etc. Mit abstrakten Begriffen wie „sportlich“, „elegant“, „harmonisch“ können Kinder dagegen nichts anfangen.
    12. Faszination Bälle: Je nach Entwicklung des Sehsinns, die erst im Alter von sechs bis acht Jahren abgeschlossen ist, kann ein Kind besser oder weniger gut Bälle fangen und berechnen. Deshalb: Geduld haben, wenn es anfangs nicht so klappt.
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