Tja, da war es wieder, dieses Surren des Rollentrainers. Ein Geräusch, das sich vor allem bei Parkettböden gerne überträgt – durch Decken und Wände. „Ich hab’ immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen“, sagt Lisa Brennauer, wenn sie zuhause im Oberallgäuer Durach auf der Rolle trainiert. „Die Nachbarn könnten sich ja gestört fühlen ...“
Auch deshalb ist Brennauer mit Rad und Rolle in die Küche umgezogen. Und sie hat ihre Sprinteinheiten auf Tageszeiten gelegt, in denen die Nachbarn für gewöhnlich außer Haus sind. „Unsere Trainer haben sich ein paar Übungen für zuhause überlegt. Kurze intensive Einheiten, jeweils vier Minuten mit richtig hoher Belastung“, erzählte Brennauer unserer Zeitung, kurz bevor sie und ihre Nationalmannschaftkolleginnen nach Frankreich zur Bahnrad-WM abreisten. Im traditionsreichen Roubaix findet dort ab Mittwoch zum Abschluss eines turbulenten Jahres mit Olympia, Straßen-WM und Bahnrad-EM die vierte hochkarätige internationale Veranstaltung statt. Und Brennauer zählt bei der Teamverfolgung am Donnerstag (ab 18.30 Uhr) und bei der Einzelverfolgung am Samstag (ab 17.30 Uhr) erneut zu den heißen Medaillenanwärterinnen.
Lisa Brennauer: „Ich war krank. Den Körper kann man nicht austricksen“
Ein Höhepunkt jagt in dieser Saison den nächsten. Brennauer hat das bislang nicht irritiert – oder um in der Fachsprache zu bleiben – auf keinen Fall aus der Bahn geworfen. Dabei hatte sie nach dem Olympia-Gold von Tokio, das sie mit dem deutschen Vierer in neuer Weltrekordzeit gewann, schon Zweifel, wie die Saison weitergehen soll. Eine Woche nach Olympia komplett runterfahren, das war von vornherein geplant. „Doch daraus sind zwei geworden“, blickt Brennauer zurück. „Ich war krank. Den Körper kann man nicht austricksen. Er nimmt sich seine Auszeiten, wenn er sie braucht“, sagt die 33-Jährige.
Rückblickend sei die Zwangspause aber eher ein Segen für sie gewesen. Sie habe nämlich während der Auszeit viel gegrübelt, wie sie den Rest der Saison anpacken will. Die Gefahr, nach all den mentalen Belastungen in ein Loch zu fallen, sei groß gewesen. Aber genau das regelte Brennauer mit Köpfchen: „Ich hab’ irgendwann für mich die richtige Einstellung gefunden: Alles, was jetzt noch kommt, ist Bonus. Ich will jedes Rennen mit Freude und Spaß angehen.“ Das sei alternativlos gewesen, weiß Brennauer heute: „Dem Körper nur zu sagen, jetzt seien wieder Wettkampf und Höchstleistung angesagt, hätte sicher nicht funktioniert.“
Nach Olympia-Gold noch Welt- und Europameisterin
Und so gelangen der Duracherin nach dem Karriere-Höhepunkt Olympia weitere herausragende Erfolge. Erst Bronze bei der Straßen-EM in Trient/Italien Anfang September, zwei Wochen später Gold bei der Straßenrad-WM im belgischen Flandern mit der Mixed-Staffel im Zeitfahren und zuletzt Doppel-Gold bei der Bahnrad-EM im schweizerischen Grenchen. Dazwischen landete Brennauer bei der Frauen-Premiere des Rad-Klassikers Paris – Roubaix auf Rang vier. Vier Sekunden fehlten der Allgäuerin für einen historischen Podestplatz.

Die Frankfurter Allgemeine verlieh der Duracherin unlängst den Beinamen „Die Radwandlerin“, weil sie scheinbar schlafwandlerisch den steten Wechsel zwischen dreckverschmiertem Kampf auf der Straße und der klinisch sauberen Präzisionsarbeit auf der Bahn hinbekommt. Bei Paris – Roubaix quälte sie sich über 116 Kilometer durch Matsch und grobes Kopfsteinpflaster, vier Tage später war sie die schnellkräftige Powerfrau über die 4-Kilometer-Distanz. Das nennt man wohl Allrounderin.
Urlaub, um das unglaubliche Jahr 2021 mal sacken zu lassen
Die Ziele für Roubaix sind hochgesteckt – auch wenn Lisa Klein aus dem Olympia-Gold-Vierer in der Mannschaftsverfolgung fehlen und von Nachwuchshoffnung Laura Süßemilch (24) aus Weingarten ersetzt wird. „Wir werden auch mit Laura ein starkes Team sein. Hauptsache, wir gehen mit Freude an die Aufgabe“, sagt Brennauer, die auch für die Einerverfolgung guter Dinge ist: „Auch da sind meine Chancen gut.“ Trotz allen Ehrgeizes sehnt sie das Ende der Saison herbei. „Diese zwei Rennen noch, dann wird es Zeit, die Füße hochzulegen und erst mal alles sacken zu lassen“, sagt Brennauer und grübelt: „So ganz realisiert habe ich es noch nicht, was da heuer so alles passiert ist.“
Nach Roubaix geht’s ab in den Urlaub – erst weiter weg, dann im Allgäu. Ihre Nachbarn werden dann sicher bald wieder das Summen der Rolle hören. Aber egal. Tür an Tür mit einer Olympiasiegerin und vielleicht bald sechs- oder gar siebenfachen Weltmeisterin zu wohnen, ist ja schließlich auch ein Privileg.
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