Ganz oben an der Spitze einer kleinen Weißtanne lässt sich erkennen, ob ein Reh zugeschlagen hat. Förster Frank Kroll lässt ein etwa 20 Zentimeter groß gewachsenes Tännchen durch seine Hand streifen, prüft noch einmal genau und sagt dann an seinen Kollegen gerichtet: „Tanne. Höhenstufe Eins. Ohne Verbiss.“ Ein Reh hat an dieser kleinen Tanne also nicht geknabbert. Diese Analyse macht Kroll an derselben Stelle im Wald noch weitere 14 Mal. Dann geht er einige Meter weiter und prüft erneut. Nach genauen Kriterien, nach genauen Vorgaben. Wieder und wieder.
Er und seine Kollegen des Kaufbeurer Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (AELF) sind etwa zwei Monate durchgehend damit beschäftigt, die kleinsten Bäume des Waldes systematisch zu untersuchen.
Untersuchung in Bayerns Wäldern auf Verbissspuren: Auch für Jäger eine Grundlage
Denn heuer soll das Gutachten zur Situation der Waldverjüngung erstellt werden. Seit 1986 gibt es dieses bereits. Alle drei Jahre steht es auf dem Programm. Ist es fertig, wird das Gutachten ein wichtiges Hilfsmittel für die Abschussplanungen in den Jagdjahren 2025 bis 2028 sein. Und nicht nur das: Es bildet zudem eine statistische Grundlage, die der sachlichen Diskussion zwischen Jägern und Förstern um den dient. „Um nicht einfach ins Blaue hinein zu diskutieren“, erläutert Stephan Kleiner, Bereichsleiter am Kaufbeurer AELF.
Doch bis das Gutachten steht, müssen erst einmal Daten erhoben werden. Wie hier im Wald bei Kaufbeuren. Allein im Ostallgäu gibt es laut AELF 13 Hegegemeinschaften, an denen jeweils 30 bis 40 Inventurpunkte - also Waldflächen - zu untersuchen sind. An diesem Tag im Februar starten die Förster. Noch bis voraussichtlich Ende April werden sie in den Wäldern unterwegs sein. Allerdings nicht einfach an beliebigen Stellen, sondern an dafür ausgewählten Flächen, die für ganz Bayern statistisch erhoben wurden.
Verbiss-Schäden an Bäumen: War es ein Reh oder Hase?
Zurück zu Förster Frank Kroll in den Forst: Er beginnt seine Untersuchung, in dem er auf einer Geraden in gleichmäßigen Abständen Punkte markiert. Er steckt dafür rot-weiß gestreifte Stöcke in den Waldboden. Am ersten Stock beginnt er dann, jeweils 15 einzelne Bäumchen zu untersuchen. Sie müssen mindestens 20 Zentimeter groß sein, damit sie für die Stichprobe in Frage kommen. Dabei geht es zunächst um die Baumart: Tanne, Fichte, Buche? Dann um Verbiss-Spuren: Ist die Spitze abgebrochen oder abgebissen? Das ist schon etwas schwieriger, da muss im Zweifel mit den Kollegen diskutiert werden, sagt Kroll. Das geschulte Auge der Förster kann allerdings erkennen, ob es sich bei einem abgebrochenen Trieb am Bäumchen um den Biss eines Rehes oder eines Hasen handelt. War es ein Hase, zählt das nicht. Bei der Erhebung gehe es nur um Schalenwild, erläutern die Förster. Also etwa um Rehe, Hirsche oder Gämse.
"Wir brauchen den Wald" wegen des Klimawandels
Der Verbiss, sagt Bereichsleiter Stephan Kleiner, habe nach wie vor den größten Einfluss auf die Waldverjüngung. Und die nächste Baumgeneration sei allein wegen des Klimawandels enorm wichtig: „Wir brauchen den Wald.“ Über die Verjüngung könne man den Forst gestalten. In Deutschland gebe es 60 Baumarten, die sich normalerweise selbst verjüngten. Doch wenn der Waldverbiss zu hoch sei, dann schafften es etwa die kleinen Tannen nicht, zu wachsen.
Verlieren sie zu oft die Spitze, sterben sie
Stephan Kleiner kniet auf dem Waldboden und zeigt auf ein Tännchen. Oben fehlt ihm der sogenannte Leittrieb, er wurde wohl gefressen. „Tannen sind die Schokolade der Rehe“, sagt Kleiner. Deshalb knabbern sie daran. Doch eine kleine Tanne brauche ein Jahr, um wieder aufzuholen, was sie an Wachstum durch einen fehlenden Leittrieb verloren habe. Verliere sie zu oft ihre Spitze, sterbe sie. Doch gerade die Tanne sei wichtig für die Wälder: Sie kommt etwa mit Trockenheit gut zurecht.
Zuletzt hatte die großangelegte Untersuchung im Jahr 2021 stattgefunden. Laut dem bayerischen Landwirtschaftsministerium, das letztlich für das Gutachten verantwortlich ist, hat damals der Anteil der Laubbäume zugenommen. Ebenso festgestellt wurde, dass der Anteil der Pflanzen mit frischem Leittriebverbiss bei Fichten bei zwei Prozent lag. Bei Tannen lag er dagegen etwas höher bei elf Prozent. Im Wald in Kaufbeuren sieht es an diesem Nachmittag jedoch anders aus: Kaum eines der Pflänzchen bekommt die Einstufung „Tanne. Höhenstufe Eins. Mit Verbiss“.