Dieweil gerad zu dieser Frist
der große Thurnknopf offen ist,
Und man hiebei gar manche Art
Andenken in ihm aufbewahrt,
So bin ich dann hiemit so frey,
Und lege auch mein Scherflein bey
(Jakob Friedrich Unold, 1824)
In 65 Metern Höhe, weit über den Dächern Memmingens, haben zwei Arbeiter die Spitze des Martinsturms abgebaut. Diese besteht aus einer Wetterfahne, einem vergoldeten Kreuz und einer goldfarbenen Kugel. Einer Anwohnerin war aufgefallen, dass die Spitze schief stand. Wind und Wetter hatten den Stützbalken der Konstruktion morsch und die Spitze instabil werden lassen.
„Der Balken schaut aus, als hätte jemand Hackschnitzel rein gefüllt. Es war höchste Eisenbahn, das wir da etwas gemacht haben“, sagt Dekan Christoph Schieder von der evangelischen Martinskirche.
"Trüchlein" mit Beigaben zum Zeitgeschehen
Die Wetterfahne und das Kreuz holten die Arbeiter ohne größere Probleme auf den Boden. Schwieriger war es, die goldene Kugel – den sogenannten Turmknopf – abzubauen. Lange probierten sie, die Kugel vom Turm zu heben, was jedoch nicht klappte. Nach Rücksprache mit Dekan Schieder zerschnitten sie die Kugel schließlich in luftiger Höhe mit einem Winkelschleifer.
Als einer der Arbeiter mehrere Metalldosen aus der Kugel holte, machte sich bei den Beobachtern am Boden Unruhe breit. „Sobald die unten sind, müssen wir die gleich in Empfang nehmen – nicht dass sie aus Versehen wegkommen“, sagte Hansjörg Käser, Sprecher der Turmführer von St. Martin.

Diese sogenannten „Trüchlein“ gibt es in vielen Türmen. Jedes Mal, wenn der Turmknopf geöffnet wird, etwa weil das Dach beschädigt ist oder umgebaut wird, legen die jeweiligen Besitzer einen neuen Behälter dazu. „Man legt Beigaben über das Zeitgeschehen hinein. Briefe, in denen man sagt, wer dabei war und was geschehen ist“, beschreibt Käser. In der Kugel auf dem Martinsturm waren vier Kassetten. Auf einem ist die Jahreszahl 1566 eingraviert.
Botschaften für die Nachwelt
Manche Döslein haben Menschen schon bei früheren Kapselöffnungen aufgemacht, den Inhalt dokumentiert und wieder verschlossen. So weiß Stadtarchivar Christoph Engelhard etwa, dass der Geschichtsschreiber Jakob Friedrich Unold 1824, als die Stadt den Turm nach einem Sturm reparieren lies, das „Lied im Thurnknopfe“ hineinlegte (erste Strophe siehe oben).
Dennoch ist Engelhard gespannt darauf, was im Inneren der Metallkassetten alles schlummert. „Die Menschen haben eine Momentaufnahme ihrer Zeit in der Box festgehalten und dem Wandel der Zeit entzogen. Es ist eine Botschaft an die Zukunft. Das macht den Zauber daran aus“, beschreibt er.
Die Menschen haben eine Momentaufnahme ihrer Zeit in der Box festgehalten und dem Wandel der Zeit entzogen. Es ist eine Botschaft an die Zukunft. Das macht den Zauber daran aus.Stadtarchivar Christoph Engelhard
Als Stadtarchivar müsse er sich natürlich die Frage stellen, ob es in Ordnung ist, dass historische Dokumente dort oben liegen, Frost und Minusgraden ausgesetzt sind. „Aber sie sind für die Nachwelt geschrieben, die haben hier unten keinen Platz“, betont Engelhard.
81-jähriger Zeitzeuge: Vor 53 Jahren habe ich dieses Kreuz vegoldet
Als vor etwa 15 Jahren der Kreuzherrenturm saniert wurde, habe die Stadt ebenfalls Dosen im dortigen Turmknopf vorgefunden – und eine Neue dazugelegt. Damals habe man in den Kassetten Münzen, ein kleines Kreuz und eine Reliquie aus kleinen Knochenstücken gefunden.
Dekan Schieder will die Dosen aus dem Martinsturm nun öffnen, dokumentieren und wieder verschließen.
Das Interesse von Werner Spettenhuber gilt derweil nicht der goldenen Kugel, sondern dem Kreuz, das darüber hing. Das hat der 81-Jährige vor 53 Jahren als Malergeselle vergoldet. „Am 10.10.1966 um 10.10 Uhr hat man das Kreuz aufgestellt“, erzählt er. Spettenhuber wohnt nicht weit von der Martinskirche entfernt. „Ich war immer ganz stolz, wenn es so schön in der Sonne geglänzt hat“, sagt er. Nach einem halben Jahrhundert hat er sein Werk nun wieder aus nächster Nähe gesehen. „Ich bin entsetzt, wie es ausschaut“, sagt er. Regen, Hagel und Graupel haben ihre Spuren an der Turmspitze hinterlassen.