Es waren vor allem Alamannen, die nach dem Abzug der Römer um das Jahr 450 herum das Land vor den Alpen in Besitz nahmen und kultivierten. Daneben lebten in unserer Region Mitglieder anderer Germanenstämme, zurückgebliebene Romanen sowie Menschen aus anderen Gegenden des römischen Reichs. Vielleicht gab es sogar noch Reste von Kelten und Rätern. Jedenfalls waren die Allgäuer des Frühmittelalters eine ziemlich exotische Multikulti-Gesellschaft.
„Blut zu vergießen war weitaus populärer als Tinte zu verspritzen.“ Der Allgäuer Historiker Alfred Weitnauer
Wer wo in unserer Region lebte, kann heute nicht mehr genau gesagt werden. Die Menschen waren – mit wenigen Ausnahmen – Analphabeten. Deshalb existieren kaum schriftliche Aufzeichnungen. „Blut zu vergießen war weitaus populärer als Tinte zu verspritzen.“ So brachte es der Allgäuer Historiker Alfred Weitnauer einst auf den Punkt. Wenn etwas aufgezeichnet wurde, dann in den Machtzentren der weltlichen Herrscher sowie in den Klöstern, wo des Schreibens mächtige Mönche lebten. Oft berichten Urkunden von wichtigen Ereignissen – etwa jene im Kloster Sankt Gallen aus dem Jahr 817, die erstmals eine Siedlung im „Albgau“ dokumentiert.

Auch die Archäologie kann nur wenig beitragen. Deshalb ist die Beschreibung der voralpenländischen Geschichte nach wie vor ein Puzzlespiel. Wer sie rekonstruieren möchte, muss ein Meister der Interpretation sein. Thesen und Theorien dominieren; gesicherte Erkenntnisse sind Mangelware. Selbst schriftliche Quellen sind mit großer Vorsicht zu genießen. Es wurde – wie heute ja teilweise auch – geflunkert, gelogen und gefälscht, um bestimmte Interessen zu verfolgen. Lange Zeit wurde beispielsweise behauptet, Karl der Große habe 774 eine Klosterschenkung seiner Frau Hildegard in Kempten bestätigt, und Papst Hadrian sei im Jahr 777 extra angereist, um die neue Klosterkirche zu weihen. Jahrhunderte später stellte sich heraus, dass Dokumente, die dies belegen sollten, Fälschungen waren. Auch die einflussreiche Magnus-Vita muss mit Vorsicht gelesen werden.
Bei all den Unsicherheiten ist eines gewiss: Zwischen den Jahren 500 und 1000 wurde das Alpenvorland immer stärker besiedelt. Erst lebten die Menschen in Orten entlang der Römerstraßen und in den großen Flusstälern von Iller, Argen, Wertach und Lech. Nach und nach drangen sie immer weiter nach Süden vor. Als es dort enger wurde, eroberten die Menschen die Höhenlagen und ungünstiger gelegenen Gebiete.
Man muss sich das damalige Allgäu als ziemlich unwirtliches Land vorstellen mit Urwäldern, Mooren, Sümpfen und wilden Wasserläufen, mit einem rauen Klima und – angesichts der Hügel und Berge – mit schwierig zu befahrendem und zu bebauendem Gelände. Die Siedler hatten Schwerstarbeit zu leisten, um die Wildnis bewohnbar zu machen. Die voralpine Landschaft erwies sich als „wenig siedlungsfreundlich“, wie der Scheidegger Historiker Wolfgang Hartung feststellt.

Alamannen bevorzugten kleine Weiler mit ein paar Gebäuden. Familienclans mit einem Adeligen an der Spitze, Unfreien als Arbeitern und oft einem Priester im Schlepptau rodeten die Wälder, bauten ein paar einfache Häuser aus Holz und Lehm mit einem Strohdach als Bedeckung sowie ein kleines Kirchlein. Sie trieben Ackerbau und Viehzucht. Die Orte wurden oft nach dem Anführer benannt. In diesen Zeiten trugen die Alamannen nur einen Namen, etwa Thiotrich, Wolfarn, Egilolf, Rihart oder Waltfrid.
Die Sippen waren hierarchisch und patriarchalisch organisiert. Das zeigt sich etwa am Erbrecht: Land und Besitz gaben die Männer an ihre Söhne weiter; Frauen konnten nur persönliche Habe vererben. Gesellschaftlich war die Macht klar verteilt: Die Adeligen hatten das Sagen, die übrigen mussten arbeiten. „90 Prozent der Menschen waren leibeigene Bauern“, sagt Historiker Hartung. Händler, Kaufleute und Handwerker gab es kaum. Die Bauern machten wohl alles selbst.
Als Motiv für die Besiedlung zumindest des Gebietes westlich der Iller nennt Wolfgang Hartung den Landmangel im Bodenseeraum. Er räumt mit der von früheren Allgäu-Forschern gern erzählten Legende auf, Missionierung und Christianisierung sei der Antrieb gewesen. Südlich der ziemlich gerade von Bregenz nach Kempten verlaufenden Römerstraße und westlich der Iller nahm die Besiedlung spätestens im 9. Jahrhundert Fahrt auf, wie Urkunden in St. Gallen belegen. Für das Gebiet östlich der Iller ist das Bild angesichts fehlender Quellen unklarer. Die Iller übrigens trennte damals das Einflussgebiet des Bistums Konstanz mit seinem alamannisch geprägten Kloster St. Gallen und das Bistum Augsburg, das fest in fränkischer Hand war. Die Gebiete östlich der Iller standen unter der „Aufsicht“ (Hartung) des Augsburger Bischofs.

Kempten, die ehemals bedeutende Römerstadt, gibt 752 wieder Lichtzeichen in diesem Geschichts-Dunkel. Ein Mönch auf der Insel Reichenau notierte – allerdings erst im 11. Jahrhundert–, dass in jenem Jahr ein gewisser Audogar ein Kloster gründete und als Abt führte. Ob und in welchem Zusammenhang dies mit dem Wirken von Magnus stand, der ja auf seiner Reise von St. Gallen nach Füssen in Kempten Station machte, ist ungeklärt.
Etwa zur selben Zeit entstanden im Land vor dem Alpen weitere Klöster – oder zumindest Mönchszellen, etwa durch Magnus in Füssen sowie in Ottobeuren, wo 764 als Gründungsdatum gilt. Später werden die Klöster zu Mittelpunkten von Kunst, Kultur und Bildung, manche Äbte zu Landesfürsten.
Welche politischen Veränderungen und kriegerischen Erschütterungen die Menschen zwischen Bodensee und Lech im Frühmittelalter erleben und erdulden mussten, ist heute noch nicht ganz klar. Der Scheidegger Historiker Hartung arbeitet gerade daran, die Organisation in Grafschaften zu beleuchten. In den St. Gallener Urkunden taucht demnach ein Welf als erster Graf für das Albgau (heutiges Westallgäu) auf. Die mächtigen Franken, die Alamannien (und damit auch das Alpenvorland) ab 537 teilweise und ab 746 vollständig beherrschten, setzen Statthalter ein, um ihre Macht zu sichern. Außerdem sorgten sie dafür, dass sich bei den Christen die Dreifaltigkeitslehre endgültig gegen den Arianismus durchsetzte.
Die Ungarn bringen "massise Zerstörungen"
Vermutlich war es recht ruhig in diesen 500 Jahren des frühen Mittelalters. Der Krieg kam erst wieder im 10. Jahrhundert ins Alpenvorland, das mittlerweile Teil des fränkisch regierten Herzogtums Schwaben war. Die Magyaren (Ungarn) brachten ihn. Das Reitervolk fiel ab dem Jahr 909 immer wieder in Schwaben ein, plünderte und verwüstete Weiler, brannte Siedlungen nieder, tötete Menschen. Bei diesen Raubzügen der Magyaren, die bis zu ihrer Niederlage bei der Schlacht auf dem Lechfeld 955 andauerten, zerstörten die Eindringlinge wohl mehrmals das Kloster Kempten. Der Konvent ging nach Stöttwang ins Ostallgäu. Die Historikerin Birgit Kata schließt daraus, dass die Magyaren in Kempten „massive Zerstörungen“ anrichteten.
In diesen blutigen Zeiten errichteten die Menschen auch in unserer Gegend Fliehburgen, die ihnen und ihren Tieren durch natürliche Gegebenheiten und Wälle Schutz boten. Ab 926 mahnten die herrschenden Franken den Bau von Burgen an. Aber diese Verteidigungsmaßnahme wurde laut Historikerin Kata im Allgäu noch nicht gleich umgesetzt. Erst im 11. Jahrhundert wurde das Allgäu zum Land der Burgen, von denen man heute noch so viele Reste und Ruinen sieht.