Rund um die Sankt-Andreas-Kirche blühen die Rosen, das Kirchendach glitzert golden in der Sonne und im Innern hängen die in Goldfarben gehaltenen Ikonen an strahlend weißen Wänden. Darunter dann Fotografien, die das pure Grauen zeigen. Menschen erschossen, gefesselt, gefoltert. Verstümmelte und verbrannte Leichname. So sah es aus Ende März, Anfang April vor drei Jahren in Butscha bei Kiew. Die rund 50.000 Einwohner zählende Stadt war 33 Tage lang von russischen Truppen besetzt gewesen, scheinbar wahllos begannen Angehörige von Putins Militär zu morden. Mehr als 500 Leichen fanden die Befreier. Mehr als 100 Tote hatten die Täter in zwei Massengräbern verscharrt, erzählt Bürgermeister Anatolii Fedoruk.
Er ist überzeugt, dass die Angreifer dabei teilweise gezielt vorgingen, um den Widerstand zu brechen. „Uns Bürgermeister haben sie richtig gejagt.“ Er sei nur mit Glück davongekommen, so Fedoruk, als er eine Delegation mit der bayerischen Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) an der Spitze durch den Ort führt, dessen Name zum Synonym für mutmaßliche Kriegsverbrechen während des russischen Angriffskrieges geworden ist.
Seit Monaten fällt Aigners Name, wenn es um eine Nachfolge von Frank-Walter Steinmeier geht
Auslandsreisen des Landtagspräsidiums lösen normalerweise nur geringes Aufsehen aus. Man war zuletzt in Südafrika, Quebec oder Südtirol. Aber Kiew und die Ukraine sind ein anderes Kaliber, auch wenn die Welt in diesen Tagen mehr auf den Krieg zwischen Israel und dem Iran blickt. Hinzu kommt der Zeitpunkt. Aigner ist als künftige Bundespräsidentin im Gespräch.
Spekulationen über ihre Ambitionen hat Aigner bislang gekonnt abmoderiert. Sie schätze den jetzigen Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier viel zu sehr, um sich an Debatten über seine Nachfolge zu beteiligen, sagt sie – und: Es gebe Schlimmeres, als für das höchste Amt im Staate im Gespräch zu sein. Ein Nein klingt anders und mittlerweile sind die Zeichen nicht mehr zu übersehen.
Seit Monaten fällt Aigners Name, wenn es um eine Nachfolge von Steinmeier geht.
Der frühere CSU-Chef Horst Seehofer, der sie gerne als seine Nachfolgerin im Amt des Ministerpräsidenten gesehen hätte, hat es zuletzt in einem seiner seltenen Interviews auf den Punkt gebracht: „Ich bin absolut für eine Frau, und von denen, die die CSU präsentieren kann, wäre auch für mich die Ilse an der ersten Stelle.“ Für Aigner kommen derartige Vorstöße zur Unzeit. Frühestens im Herbst kommenden Jahres sei so eine Diskussion angebracht, sagt sie während der Ukraine-Reise. „Es bringt nichts, jetzt darüber zu reden.“ Gewählt wird der Bundespräsident im Februar 2027. Punkt. Punkt?
Richtig ist, dass bis zur Wahl eines Nachfolgers von Amtsinhaber Steinmeier, der nicht mehr antreten darf, noch viel Zeit vergeht, im politischen Geschäft fast eine gefühlte Ewigkeit. Andererseits blüht in diesem Geschäft nichts so sehr wie Personalspekulationen, und für die ist die Personalie „Aigner“ bestens geeignet. Als frühere Bundes- und Landesministerin verfügt die für ihre herzliche Art geschätzte 60-Jährige über ein gutes Netzwerk in der deutschen Politik. Mit dem CDU-Chef und Bundeskanzler Friedrich Merz verbindet sie ein herzlich-kollegiales Verhältnis, mit Markus Söder, dem CSU-Vorsitzenden, ein zwiespältiges. Der reisefreudige Ministerpräsident hat es noch nicht nach Kiew geschafft. Zuletzt war er in Indien. Dorthin will Aigner im Herbst fliegen.
Tagsüber sind in Kiew die Straßen und Cafés voll, die Menschen schwimmen im Fluss – aber nachts kommen die Drohnen
Doch nun Kiew. In nur zehn Stunden absolviert ihre 14-köpfige Delegation ein mit Terminen gespicktes Programm in der ukrainischen Hauptstadt. Der Besuch in Kiew und im dortigen Parlament sei schon lange geplant gewesen, erst verhinderte ihn Corona, dann der Krieg. „Wir haben lange überlegt, ob wir fahren können“, sagt Aigner, die von den Vizepräsidenten Tobias Reiß (CSU) und Markus Rinderspacher (SPD) begleitet wird. Mit Blick auf die prekäre Sicherheitslage ist ein Besuch an einem Tag daraus geworden. Ziel: „Wir wollen ein Zeichen setzen.“
Kiew empfängt am Montag mit dem Versprechen von 25 Grad und einem herrlichen Sommertag. Die Nacht aber kann schrecklich werden – und wird es dann auch.
Tagsüber sind die Straßen und Cafés voll, die Menschen schwimmen im Fluss, bevölkern die Sandstrände der Dnipro-Insel Truchaniw. Doch nachts kommen die Drohnen. Wenn sogenannte Hyperschallraketen im Anflug sind, beträgt die Vorwarnzeit nur zwei Minuten, bei ballistischen Raketen haben die Menschen sieben Minuten. Drohnen sind viel langsamer, aber auch viel zahlreicher.

Kiew ist die bestgeschützte Stadt in der Ukraine, eher selten schaffen es die Geschosse ins Zentrum. In anderen Städten wie Odessa sieht das anders aus. Von dort kommt die Klage, dass die Hauptstadt bei der Zuteilung der knappen Luftabwehr bevorzugt werde.
Selbst wenn Schäden an Gebäuden manchmal nur auf den zweiten Blick zu erkennen sind, auch in Kiew ist der Krieg allgegenwärtig. Am Bahnhof warten an die 20 Ambulanzwagen auf einen Zug, der auf Gleis eins einfährt. Er bringt Verwundete von der Front. Seit dem russischen Überfall vor mehr als drei Jahren, gegen den sich die Ukrainer verzweifelt wehren, sind mutmaßlich Hunderttausende ums Leben gekommen oder verwundet worden. Seriöse Schätzungen gehen von 1000 bis 5000 Toten auf beiden Seiten aus – in jeder Woche.
Bürgermeister Vitali Klitschko sagt immer wieder, wie dankbar er Deutschland für die Hilfe ist
Vitali Klitschko sieht müde aus. Grau ist der einstige Boxweltmeister geworden, seine beeindruckende Statur hat er sich bewahrt. Klitschko ist seit 2014 Bürgermeister von Kiew, und Münchens Partnerstadt ist auf vielfache Weise vom Krieg gezeichnet. Mehr als 1100 Gebäude sind zerstört, 600.000 von rund 3,7 Millionen Einwohnern sind Menschen, die aus anderen Teilen des Landes geflohen sind. Auf den Friedhöfen prägen die ukrainischen Flaggen, mit denen die Gräber der gefallenen Soldaten gekennzeichnet sind, das Bild.
Während des Krieges sind rund sieben Millionen Ukrainer außer Landes geflüchtet, rund 160.000 davon leben in Bayern. Klitschko kennt diese Zahlen und sagt immer wieder, wie dankbar er Deutschland für die Hilfe ist. „Ohne eure Unterstützung könnten wir nicht überleben. Das ist kein Geheimnis.“

Rund eine Stunde lang unterhält sich Klitschko mit den Gästen aus Bayern, er spricht ruhig, hat die Arme auf einem riesigen weißen Konferenztisch verschränkt. Irgendwann greift er zu einem Vergleich aus dem Boxsport, der ihn reich und berühmt gemacht hat. „Dein Herz springt raus, du siehst fast nichts mehr. Du willst aufgeben. Aber du darfst nicht vergessen, dem anderen geht es nicht besser.“ Tatsächlich schleppt sich der Krieg quälend langsam dahin. Rund ein Fünftel des Territoriums der Ukraine halten die Russen besetzt, viel ist in diesem Jahr trotz zahlloser Opfer nicht dazugekommen. Die Verhandlungen beider Seiten in der Türkei scheinen hoffnungslos festgefahren. Zuletzt hat man Gefangene und Gefallene ausgetauscht.
Die Toten, die Verwundeten, die Verkrüppelten, die zermürbenden Bombenalarme. Aufs Jahr gerechnet verbringen die Kiewer von zwölf Monaten einen Monat in Schutzräumen, rechnet Klitschko vor. Wie die Menschen das aushalten? „Das ist unser Zuhause. Hier wurden unsere Kinder geboren und hier sind unsere Großeltern begraben.“ So sehr Klitschko ein Ende des Krieges herbeisehnt, aufgeben sei keine Option. Die Ukrainer kämpften für ihr Recht, in einem freien europäischen Land zu leben. „Wir müssen stark sein.“ Am Abend, der Zug mit der kleinen Delegation aus Bayern hat keine Stunde zuvor den Bahnhof in Kiew verlassen, gibt es wieder Alarm über der Stadt. In den folgenden Stunden gehen schwere Angriffe auf die Stadt nieder. In mehreren Vierteln brechen Brände aus, Raketen und Drohnen töten mindestens 14 Menschen, von 40 weiteren Verletzten ist die Rede. Wie sagte Klitschko noch am Nachmitttag zuvor? „Dieser schöne Tag ist nur eine Illusion.“
Die ukrainische Forderung nach dem in Schrobenhausen montierten Marschflugkörper Taurus scheint vorerst vom Tisch
„Ich verneige mich vor den Ukrainern“, sagt Aigner auf der rund elf Stunden dauernden Rückfahrt im Zug bis zur Grenze nach Polen. „Es ist beeindruckend, welchen Mut sie aufbringen.“ Viel konkrete Hilfe kann sie als Landtagspräsidentin nicht anbieten. Daheim will sie bei Krankenhäusern nachfragen, ob mehr Unterstützung für ukrainische Reha-Kliniken möglich ist, ein Caritas-Kinderdorf soll Kriegswaisen zumindest ein paar unbeschwerte Wochen in Bayern ermöglichen.
Natürlich ging es bei den Gesprächen mit dem stellvertretenden Außenminister und dem stellvertretenden Parlamentspräsidenten auch um Waffen und Munition für die ukrainischen Soldaten. Wobei der Politikerin aus Bayern ein diplomatisch heikles Thema offenbar erspart blieb.

Die ukrainische Forderung nach dem in Schrobenhausen montierten Marschflugkörper Taurus scheint vorerst vom Tisch. Die Bundesregierung hat der Ukraine rund 400 Millionen Euro für die Herstellung eigener weitreichender Waffensysteme versprochen, erst vor wenigen Tagen war Verteidigungsminister Boris Pistorius deswegen in Kiew.
Aigners Delegation war die erste aus Bayern, die Butscha besuchte, seine Kirche, das Mahnmal mit den Hunderten von Namen darauf. Die acht Stelen stehen da, wo einst die Massengräber waren, und ein paar Schritte daneben die Kirche mit den goldfarbenen Ikonen und den grauenhaften Bildern.
Ilse Aigner in Kiew: Die Geschichte einer Reise
Das Wild Bean Café im polnischen Grenzort Chelm serviert Hot Dogs sowie viele Arten von Chips und Bier. Was es halt so gibt in einem Tankstellenshop. Und weil es sonst nicht mehr viel gibt in der Nähe des letzten Bahnhofs vor der Grenze zur Ukraine, wurde die Tanke zur improvisierten Zwischenstation einer Delegation des bayerischen Landtags. Die Präsidentin höchstselbst fischte ein paar Getränke für die Truppe aus einem Kühlschrank.
Es war die Szene einer ungewöhnlichen Reise einer Delegation des Präsidiums des bayerischen Landtags mit Präsidentin Ilse Aigner an der Spitze in die Ukraine, die sich seit mehr als drei Jahren eines russischen Überfalls erwehren muss. Die CSU-Politikerin ließ sich dabei unter anderem von vier Journalisten begleiten. Unter ihnen war der für Landespolitik zuständige München-Korrespondent unserer Redaktion, Christoph Frey (57).
Langwierig und anstrengend waren An- und Abreise in die Hauptstadt Kiew, die jeweils einen Tag in Anspruch nahmen. Zwischen München und Warschau war die Gruppe mit dem Flugzeug unterwegs, danach ging es per Zug weiter.
Über Nacht fuhr die 14-köpfige Delegation im Schlafwagen nach Kiew, der Zug hat wenig gemein mit den Abteilen, die man von den Kanzler-Reisen nach Kiew kennt. Stattdessen kleine Abteile, in denen bis zu vier Menschen schlafen können, da wird es beim Plauderstündchen rasch kuschelig. Das Frühstück gab es aus der Papiertüte und den bangen Blick auf die Nachrichten-App, welche vor Drohnen- und Raketenangriffen warnt, gratis mit dazu. Fazit: Zusammengerechnet rund 38 Stunden Reisezeit für zehn Stunden Kiew. Wir finden, für diese Geschichte hat es sich trotzdem gelohnt – und das nicht nur wegen der Begegnung mit einem früheren Boxchampion, der jetzt als Bürgermeister den wichtigsten Kampf seines Lebens ausficht.
Übrigens: Auf dem Rückweg verpasste die Delegation das Wild Bean Café. Stattdessen gab es Kaffee aus dem Pappbecher auf dem Bahnsteig.
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