Herr Hauser, Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte erst dieser Tage, die innere Sicherheit sei von Extremisten beider Ränder bedroht. Wie radikal ist Bayern?
MANFRED HAUSER: Das möchte ich gerne relativieren. Ich würde Bayern nicht als radikal einstufen, sondern als sehr weltoffen und lebenswert. Also, ich würde in keinem anderen Bundesland lieber leben. Richtig ist allerdings auch, dass die vielen Krisen – beginnend mit Corona – zunehmend zu Spaltungen in unserer Gesellschaft führen. Die daraus resultierende Verunsicherung treibt einige Bürgerinnen und Bürger immer mehr in Richtung der extremen politischen Ränder. Was uns dabei sehr beunruhigt: Wir stellen immer mehr eine Radikalisierung in alle Richtungen unter Jugendlichen fest. Vor allem die sozialen Medien mit ihrem Echokammereffekt haben daran einen ganz entscheidenden Anteil.
Welche Art des Extremismus halten Sie für die gefährlichste?
HAUSER: Ohne die anderen Phänomene auszublenden, denn jede Form des Extremismus ist gefährlich und gilt es abzuwehren: Ich bin der Meinung, dass die größte Gefahr für die Demokratie momentan vom Rechtsextremismus ausgeht – und hier vor allem von der AfD. Die beobachten wir in Bayern genau.
„Punkte, die die AfD klar zu einer Gefahr für die Demokratie machen“
Welche konkreten Gefahren gehen von der AfD aus?
HAUSER: Teile der Partei agieren gezielt gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, was durch die Gerichte auch bereits bestätigt wurde. Der ethnische Volksbegriff der AfD beispielsweise unterscheidet zwischen „autochthonen“ – also vermeintlich „echten“ – Deutschen im Gegensatz zu Deutschen mit Migrationshintergrund. Immer wenn politische Forderungen auf eine Abwertung von Menschen, eine Abstufung in Menschen erster und zweiter Klasse abzielen, wird der Verfassungsschutz tätig. Dazu kommt die massive Hetze der AfD gegen die muslimische Bevölkerung und ausländische Bürgerinnen und Bürger, das Verächtlichmachen der Demokratie und des Parlamentarismus. Zudem kursierten auch Umsturzfantasien, die beispielsweise in einer bayerischen AfD-Chatgruppe, in die auch Funktionsträger eingebunden waren, verbreitet wurden. Das alles sind Punkte, die die AfD derzeit ganz klar zu einer Gefahr für die Demokratie machen.
Im Fahrwasser der AfD beobachten wir wachsende Aktivitäten der Identitären Bewegung (IB), die ja ebenfalls ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild propagiert und sich vor allem an Jüngere richtet. Was macht die IB so bedrohlich?
HAUSER: Die Aktivitäten haben nach Ende der Corona-Schutzmaßnahmen zugenommen und bewegen sich in etwa wieder auf dem Vor-Corona-Niveau. Der IB gelingt es jetzt allerdings, große mediale Aufmerksamkeit zu erzielen – zum Beispiel durch diese Flyeraktion an Schulen, bei der gegen migrantische Bevölkerungsteile gehetzt wurde und Lehrkräfte der bewussten Fehlinformation von Schülerinnen und Schülern bezichtigt wurden. Die Identitäre Bewegung versucht, die Akzeptanz für rechtsextremistische Vorstellungen zu erhöhen, indem sie mehr oder weniger subtil den gesamtgesellschaftlichen Diskurs beeinflusst und versucht, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben.
Konkret zum Beispiel den Begriff „Remigration“.
HAUSER: Ja. Remigration heißt in seiner wörtlichen Grundbedeutung zunächst einmal nur: Rückkehr von Migrantinnen und Migranten in ihre Heimatländer. Wenn man den Begriff jedoch im Sinn des österreichischen IB-Anführers Martin Sellner benutzt, ist eine Unterscheidung in Menschen erster und zweiter Klasse gemeint, orientiert an der jeweiligen Migrationsbiographie und nicht an der Staatsbürgerschaft. Und da wird es für uns als Verfassungsschutz relevant. Auch in Bayern flirten Teile der AfD mit Sellners Remigrations-Begriff.
Partei vernetzt sich zunehmend mit rechtsextremer Identitärer Bewegung
Uns fällt auf, dass die IB ihre rechtsextremistischen und rassistischen Thesen immer unverhohlener in die Öffentlichkeit trägt. Trifft das zu?
HAUSER: Ja, ganz eindeutig. Die Identitäre Bewegung hat da ihre Strategie geändert. Offensichtlich ist man IB-intern nach Abwägung des Risikos, welche Maßnahmen zu befürchten sind, zu der Einschätzung gelangt, dass man – nach wenigen Jahren einer Tarnstrategie – wieder offener mit der eigenen Ideologie umgehen kann. Die IB präsentiert sich ja im Netz auch ganz offen, benutzt wieder das alte Logo und tritt in Schwarz-Gelb auf. Und die Aktivisten zeigen verstärkt ihr Gesicht in den sozialen Medien.
Wie bewerten Sie die zunehmende Vernetzung der rechtsextremen Szene? Warum sind diese Verbindungen so problematisch?
HAUSER: Das Problem ist die Arbeitsteilung zwischen der AfD und dem neurechten Spektrum. Die klaren Trennlinien zwischen demokratischen und extremistischen Positionen werden verwischt, um mehr Akzeptanz in der Gesellschaft zu gewinnen. Das ist ganz offenkundig das Ziel. Selbstverständlich werden die Erkenntnisse über diese Vernetzung maßgeblich in unsere Bewertung für die weitere Beobachtung der AfD einfließen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Ist es Parteistrategie der AfD, sich öffentlich mit IB-Aktivisten zu zeigen – oder hängt das einfach von einzelnen AfD-Leuten ab?
HAUSER: Generell stellen wir fest, dass extremistische Äußerungen oder Reaktionen mehr von den oberen Parteiebenen der AfD ausgehen als von den Ortsgruppen. Das macht uns die Bewertung nicht einfach, ob die AfD in ihrer Gesamttendenz von einer extremistischen Haltung dominiert wird.
Verfassungsschutz Bayern prüft Beobachtung eines dritten AfD-Abgeordneten
Ist die AfD in Bayern besonders radikal?
HAUSER: Es ist sicher nicht so, dass die Leitungsebene der bayerischen AfD zu den gemäßigteren Landesverbänden zu zählen wäre.
Beobachtet der bayerische Verfassungsschutz neben Franz Schmid aus Neu-Ulm und Rene Dierkes weitere AfD-Abgeordnete?
HAUSER: Nein, derzeit nicht. Für die Beobachtung von Abgeordneten gibt es hohe rechtliche Hürden. Die Beobachtung eines weiteren bayerischen AfD-Abgeordneten befindet sich aktuell aber in der Prüfphase.
Ist die Identitäre Bewegung in Bayerisch-Schwaben besonders aktiv?
HAUSER: Es gibt in Schwaben ein paar besonders aktive Mitglieder, wie etwa den neuen Bundessprecher Maximilian Märkl, über den Ihre Redaktion ja erst ausführlich und zutreffend berichtet hat. Dadurch kann zumindest der Eindruck entstehen, dass die Szene hier besonders stark ist. Man darf aber nicht vergessen, dass wir der IB in Bayern nur einen Personenkreis im mittleren bis hohen zweistelligen Bereich zurechnen.
Rechtsextreme Aktivisten finanzieren sich hauptsächlich über Spenden
Der von Ihnen angesprochene Augsburger Maximilian Märkl ist studierter Mediziner. Er übt diesen Beruf aber nicht aus und hat sich ganz dem rechtsextremistischen Aktivismus verschrieben. Wie finanzieren sich eigentlich Märkl und die IB?
HAUSER: Nach unseren Erkenntnissen in erster Linie über Spenden. Da spielt auch der Verein „Ein Prozent“ eine Rolle, der verschiedene Akteure aus dem Spektrum der Neuen Rechten finanziell unterstützt. Dieser Verein wird ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet und hat 2024 auch für IB-Aktivisten aus Bayern mithilfe eines sogenannten Soli-Fonds Spendengelder gesammelt.
Steht ein mögliches Verbot der IB im Raum?
HAUSER: Die IB ist ein bundesweites Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes, daher wäre das Bundesinnenministerium dafür zuständig, ein Verbot einzuleiten.
Anfang der Woche machte in IB-Kreisen ein Video die Runde, in dem zwei Aktivisten von einer Parteigründung sprechen. Zu sehen ist auch ein Papier, auf dem angeblich das Protokoll eines „Bundesparteitags“ am 2. August in Augsburg vermerkt ist. Wissen Sie etwas von Tendenzen der IB, sich als Partei zu gründen?
HAUSER: Zumindest liegen uns weder zu einem größeren Treffen noch zu einem „Bundesparteitag“ am vergangenen Wochenende verifizierte Erkenntnisse vor. Die taktische Überlegung der IB, sich als Partei zu organisieren, ist aber nicht neu. Das hatte sie bereits zur Bundestagswahl 2025 versucht. Damals hat der Bundeswahlausschuss festgestellt, dass die formellen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, weil die Beteiligungsanzeige nicht von drei Mitgliedern des Bundesvorstands unterzeichnet war.
Neben den bekannten rechtsextremistischen Gruppierungen gibt es auch etliche neue wie „Deutsche Jugend“, „Deutscher Störtrupp“ oder „Jung und Stark“. Wie gefährlich sind diese Gruppen?
HAUSER: Gemeinsam ist diesen Gruppierungen, dass sie alle auf junge Menschen abzielen, sehr digitalaffin sind und zumindest in ihrer Propaganda gewaltbereit scheinen. Allerdings findet die Vernetzung bisher in erster Linie virtuell statt. Aktionen in der Realwelt bilden in Bayern, anders als in anderen Bundesländern, die Ausnahme. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Polizei diesen Gruppen rasch Grenzen aufzeigt. Außerhalb Bayerns gab es auch bereits einige Verurteilungen.
Kampfsport hat für Radikalisierung „merklich an Bedeutung gewonnen“
Diese Gruppen kann man also vernachlässigen?
HAUSER: Nein, Entwarnung möchte ich da sicherlich nicht geben. Die Ansprache der Rechtsextremisten im Netz ist schon sehr geschickt und damit auch sehr gefährlich. Es beginnt niedrigschwellig mit scheinbar unverfänglichen, teils freizeitorientierten Themen bei TikTok, die eigentliche Radikalisierung findet dann aber in geschlossenen Gruppen zum Beispiel auf Telegram statt. Zuletzt sind solche Aktivitäten allerdings rückläufig.
Welche Rolle spielt Kampfsport beim Rekrutieren neuer Aktivisten?
HAUSER: Kampfsport spielt eine große Rolle, zumindest bei männlichen Jugendlichen. Das Thema hat merklich an Bedeutung gewonnen. Es ist ein wichtiges Element in der rechtsextremistischen Lebenswelt. Da geht es um körperliche Fitness, Körperkult – und auch darum, sich mit dem politischen Gegner körperlich zu messen. In seiner Gesamtheit bietet Kampfsport eine einfache Möglichkeit der Ansprache und Vernetzung von jungen Erwachsenen.
Die Identitäre Bewegung behauptet, diese Kampfsport-Trainings dienten ausschließlich der Selbstverteidigung.
HAUSER: Nun ja, das ist natürlich Taktik. Es ist aber definitiv ein niedrigschwelliges Angebot an junge Menschen, das vielleicht erstmal attraktiv wirkt, aber als Einstieg in die rechtsextremistische Szene genutzt wird.
Rekrutierung im Islamismus: „Überall braucht man gewisse Rattenfänger“
Ähnliche Strategien wenden auch islamistische Gruppen an. Wie stark beschäftigt sich der Verfassungsschutz derzeit mit solcherlei Gruppierungen?
HAUSER: Der Islamismus ist einer unserer großen Schwerpunkte. Die Entwicklung des Nahostkonflikts seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 hat dabei zu einer starken Emotionalisierung geführt, die sich islamistische Extremisten in ihrer Propaganda zunutze machen und gerade bei jungen Menschen zum Radikalisierungsbeschleuniger werden kann. Bei vielen der letzten Anschläge wurde als Motiv unter anderem Rache für Palästina angegeben.
Wie gewinnen islamistische Extremisten ihre jungen Anhänger?
HAUSER: Islamisten und vor allem Salafisten agieren überspitzt gesagt wie gute Sozialarbeiter: Sie docken an der Lebensrealität der jungen Menschen an, sprechen ihre Sprache, bieten Lebensberatung an, agieren wie beste Freunde. Gleichzeitig sind diese Islamisten mit ihren Angeboten auch dort aktiv, wo die Jugendlichen es auch sind: online, auf TikTok und Instagram. Diese Kombination kann gerade für junge Menschen in einer Phase der Identitätsfindung verfangen und zu einer islamistischen Radikalisierung führen. Neben altbekannten Predigern wie Pierre Vogel gewinnen vor diesem Hintergrund auch neue Personen an Bedeutung, zum Beispiel die islamistische Influencerin und frühere Boxerin Hannah Hansen. Wir hatten Fälle, in denen bereits 14-Jährige in die Fänge von Islamisten und in Einzelfällen auch des Islamischen Staats geraten sind. Die Methoden der Extremisten ähneln sich da schon. Überall braucht man gewisse Rattenfänger.
Verfassungsschutz-Chef Manfred Hauser warnt vor Berdohung durch Russland
Als weitere Bedrohung betrachten Sie Sabotage und Desinformation durch ausländische Mächte, allen voran Russland. Wie dramatisch ist die Entwicklung?
HAUSER: Die Heftigkeit und Häufigkeit hybrider Attacken aus Russland haben seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine massiv zugenommen. Da sind wir ziemlich beschäftigt. Russland sieht sich in einem systemischen Konflikt mit den westlichen Demokratien und strebt eine grundlegende Änderung der Ordnung in Europa an. Und dafür nutzt der russische Staat den kompletten Werkzeugkasten. Angefangen von der versuchten Einflussnahme auf innerdeutsche politische Diskussionen via Desinformationskampagnen bis hin zu Cyberangriffen auf kritische Infrastruktur. Dabei wird ja mittlerweile auch die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen, wie die Brandsätze in Frachtzentren beispielsweise im vergangenen Jahr in Leipzig zeigen. Da werden alle Bereiche der freiheitlichen Gesellschaft auf die Probe gestellt und das ist eine riesige Herausforderung.
Abschließend: Wenn Sie sich als Chef des bayerischen Verfassungsschutzes etwas wünschen dürften, was wäre das?
HAUSER: Dass endlich die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland erlaubt wird. Dies könnte erheblich dazu beitragen, mögliche Attentäter gegebenenfalls frühzeitig zu identifizieren und Anschläge zu verhindern. Aber Union und SPD haben das ja in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Ich hoffe, das kommt.
Zur Person
Manfred Hauser, 57, ist seit Anfang des Jahres Präsident des bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz (LfV). Der Jurist begann seine Laufbahn 1996 beim Landeskriminalamt. Nach mehreren Funktionen im Polizeipräsidium München wechselte er ins Innenministerium. Von Oktober 2015 bis September 2021 war Hauser bereits Vizepräsident des LfV, danach Chef des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd.

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