Herr Gottschild, heute rumst es in Schrobenhausen, während wir reden. Wird Munition in einem gesicherten Bereich des Betriebsgeländes, versteckt im Hagenauer Forst, getestet?
Thomas Gottschild: Ja, heute finden Sprengungen auf dem Testgelände der TDW statt. Wir testen regelmäßig, abhängig von den Produktionszyklen unserer Tochter TDW. Die TDW Gesellschaft für verteidigungstechnische Wirksysteme ist Europas Nummer eins auf dem Gebiet der Entwicklung und Produktion von Wirkmitteln sowie Sicherungs- und Zündvorrichtungen für Lenkflugkörper. Es wird bei uns in Schrobenhausen gesprengt, wenn es notwendig ist.
Sie sagen als Deutschland-Chef des Lenkflugkörper- und damit Waffenherstellers MBDA immer wieder, dass die Verteidigungsindustrie vor allem eines braucht: Aufträge. Es sei bedauerlich, wenn man viel Zeit ins Land gehen lässt. Deutschland könne hier wesentlich besser und schneller werden. Hat Deutschland dazugelernt?
Gottschild: Die Grundlage mit entsprechenden Rüstungsbudgets ist seit diesem Jahr gelegt. Geld ist jetzt also für einen Ausbau unserer Verteidigung da. Es geht in die richtige Richtung, was die Beschaffung von Rüstungsgütern betrifft, wie der Nato-Gipfel gezeigt hat.
Doch was muss noch passieren? Die Zeit eilt. Putin bedroht den Westen.
Gottschild: Die Rüstungspläne müssen jetzt in Aufträge umgesetzt werden. Wir brauchen als Verteidigungsbranche langfristig Stabilität und Planungssicherheit. Wissen wir, dass wir größere Mengen herstellen sollen, sind wir in der Lage, die Produktionsanlagen entsprechend auszubauen. Der Produktionsauftrag über 1000 Patriot-Flugkörper ist hierfür ein gutes Beispiel. Wenn Aufträge unter Dach und Fach sind, können wir zudem in die Automatisierung der Fertigung einsteigen und Rüstungsgüter in höheren Stückzahlen schneller produzieren.

Nehmen Sie an der Autoindustrie Maß?
Gottschild: Bei Aufträgen mit entsprechend hohen Stückzahlen können wir an der Autoindustrie Maß nehmen. Wir sind dann in der Lage, zu skalieren, also dank Automatisierung größere Stückzahlen an Lenkflugkörpern, also Waffen, in kürzerer Zeit herzustellen.
Selbst wenn die Bundesregierung Geld zur Verfügung stellt, verzögern sich Rüstungsprojekte oft wegen komplizierter Beschaffungsprozesse und überbordender Bürokratie.
Gottschild: Die Beschaffungsprozesse sind schon im vergangenen Jahr deutlich schneller geworden. Ich erlebe hier sehr engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Beschaffungsbehörden. Doch es gibt noch Verbesserungspotenzial, was die Zeitspanne vom Auftrag über die Zulassung bis zur Indienst-Stellung von Rüstungsgütern betrifft.
Auf was spielen Sie hier konkret an?
Gottschild: Für die Zulassung von Rüstungsgütern sind zum Teil zivile Vorgaben zu erfüllen, die jedoch für unsere Produkte nicht notwendig sind. Munition etwa wird erst im Einsatz genutzt. Hier ist es fraglich, ob wir alle im zivilen Bereich notwendigen Umweltauflagen auch für Munition erfüllen müssen. Und es geht um einige Sonder-Chemikalien, die wir in unserer Branche nutzen. Diese Chemikalien fallen unter die strenge EU-Richtlinie Reach. Wenn wir als Verteidigungsbranche von diesen Auflagen in einigen Fällen ausgenommen würden, könnte das helfen, schneller dringend benötigte Munition zu produzieren.

Um schneller verteidigungstüchtig zu werden, also in der Lage zu sein, uns gegen Putin zu wehren, müssen wir demnach erst einmal Bürokratie abschaffen.
Gottschild: In Deutschland sprechen wir schon lange über Entbürokratisierung. Man muss es aber auch einmal machen. Wir stehen vor drei großen Herausforderungen als Verteidigungsindustrie: Erstens müssen wir mehr produzieren. Zweitens müssen wir mehr Rüstungsgüter schneller produzieren. Und drittens müssen wir die Zukunft mit Innovationen vorbereiten.
Das klingt nach einem Kraftakt.
Gottschild: Ja, wir müssen alle drei Herausforderungen auch noch gleichzeitig bewältigen. Wir als MBDA Deutschland treten dabei in Vorleistung und investieren in die deutschen Standorte insgesamt 280 Millionen Euro über drei Jahre hinweg. Im vergangenen Jahr haben wir das Programm gestartet. Diese hohe Summe investieren wir ausschließlich in den Ausbau der Produktion und die Erweiterung unserer Produktionsfähigkeit.
Wie wirkt sich das auf die heimischen Standorte aus?
Gottschild: Wir können an allen unseren süddeutschen Standorten in Schrobenhausen mit 1100 Beschäftigten, in Aschau am Inn mit 250 Mitarbeitenden und in Ulm mit rund 80 Leuten weiter wachsen. Schrobenhausen ist und bleibt aber unser Hauptstandort. Wir verwalten, entwickeln und produzieren hier. Unsere Tochterfirma Bayern Chemie in Aschau ist spezialisiert auf die Entwicklung und Fertigung von Lenkflugkörper- und Raumfahrtantrieben und unterstützt Schrobenhausen mit der Fertigung von Raketen-Motoren.
Wie stark steigt die Zahl der Beschäftigten in Deutschland weiter an?
Gottschild: Wir werden die Zahl der Beschäftigten in absehbarer Zeit in Deutschland von derzeit rund 1400 auf vermutlich über 2000 erhöhen. In Schrobenhausen steigt die Zahl der Mitarbeitenden von 1100 auf 1700. Wir schaffen also alleine in Schrobenhausen rund 600 Arbeitsplätze.
Finden Sie ausreichend Fachkräfte?
Gottschild: Unser weiteres Wachstum wird nicht durch die Mitarbeitersuche begrenzt. Wir finden ausreichend Fachkräfte. In diesem Jahr haben sich schon gut 10.000 Frauen und Männer bei MBDA Deutschland beworben.
Es haben sich über 10.000 Menschen in gut einem halben Jahr bei MBDA Deutschland beworben?
Gottschild: Ja, exakt waren es 10.077, während es im gesamten vergangenen Jahr etwa 9000 waren. Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine waren das deutlich weniger. Wenn man bedenkt, dass wir pro Jahr zwischen 300 und 400 Leute einstellen, sind wir angesichts des Bewerberandrangs in der Lage, die besten Mitarbeiter auszuwählen.
Kommen auch Auto-Beschäftigte, etwa von Audi, zu MBDA?
Gottschild: Im Zuge des Strukturwandels und der Krise der Fahrzeugindustrie wechseln auch Auto-Beschäftigte in die Rüstungsindustrie. Wir erhalten auch viele Bewerbungen aus dem Raum Ingolstadt. Viele geben mittlerweile auch sehr konkret an, dass sie einen Beitrag zur Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas leisten wollen. Wir sind ein attraktiver und mehrfach ausgezeichneter Arbeitgeber und bieten eine Vielzahl an Benefits für unsere Beschäftigten an. Neben Fitnessstudio, betrieblicher Altersvorsorge und umfangreichen Angeboten zum Gesundheitsmanagement gehören dazu auch Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben erleichtern sollen, wie flexible Arbeitszeitmodelle oder die Möglichkeit, mobil zu arbeiten.
Zusätzliche Beschäftigte sind dringend notwendig. Es häufen sich bedrohlich klingende Warnungen. Polens Ministerpräsident Donald Tusk fordert, der Westen müsse schon 2027 für einen möglichen großen Konflikt mit Russland gewappnet sein. Wie hoch ist der Lieferdruck auf MBDA?
Gottschild: Wir sind als Rüstungsindustrie gut aufgestellt. Wir bekommen das hin im Schulterschluss zwischen Politik, Bundeswehr und Industrie. Wenn wir konzertiert zusammenarbeiten, gelingt es uns, Deutschland und Europa wieder verteidigungstüchtig zu machen.
Sie haben auch kein Problem mit dem Begriff „Kriegstüchtigkeit“, den Verteidigungsminister Boris Pistorius in Deutschland eingeführt hat.
Gottschild: Nein, ich habe kein Problem mit dem Begriff „Kriegstüchtigkeit“. Ich bin überzeugt, wir müssen die Menschen auf dem Weg dorthin mitnehmen und ihnen offen erklären, was wir als Branche tun. Auch wenn ich nicht über das Wissen von Militärs und Regierungschefs verfüge, schätze ich die Bedrohungslage ernst ein.
Rüstungsgüter kann man nicht wie im Supermarkt kaufen. Es dauert oft Jahre, bis sie entwickelt und verfügbar sind, gerade was die Abwehr von Drohnen betrifft. MBDA setzt hier unter anderem auf die Anti-Drohnen-Waffe DefendAir, die auf den von der Bundeswehr bestellten Flakpanzer Skyranger 30 montiert und von dort aus abgeschossen werden kann.
Gottschild: Wir erwarten, dass wir in den nächsten Monaten den Entwicklungsvertrag für das DefendAir-System abschließen können. Wir haben hier schon auf eigene Kosten mit den Vorarbeiten begonnen. Wir planen, die Anti-Drohnen-Waffe sehr schnell zu entwickeln.
Das Anti-Drohnensystem darf aber nicht zu teuer werden, wenn ganze Drohnen-Schwärme abgewehrt werden müssen.
Gottschild: Das ist unser Ziel. Deswegen entwickeln wir DefendAir. Wir haben erkannt, dass bisherige Lenkflugkörper-Systeme zum einen viel zu teuer und zum anderen ungeeignet für die Abwehr kleiner und mittlerer Drohnen im Nah- und Nächstbereich sind. Die Abwehr von Drohnen muss auch finanziell im Verhältnis zur Bedrohung durch Drohnen stehen. Deswegen wollen wir möglichst schnell vergleichbar günstige und wirksame Anti-Drohnenwaffen bauen.
Wie lassen sich Drohnen am besten bekämpfen?
Gottschild: Die Bekämpfung von Drohnen muss mit dem Einsatz unterschiedlicher Waffensysteme und über unterschiedliche Distanzen hinweg geleistet werden. Dazu gehören neben elektronischen Abwehrmitteln, Kanonen und Lenkflugkörpern künftig auch Laserwaffen, die in der Lage dazu sein werden, Drohnen ins Visier zu nehmen. Wir haben schon mit der deutschen Marine auf der Fregatte Sachsen demonstriert, dass Laser in der Lage sind, Drohnen zu bekämpfen. Wir erwarten auch hier in den nächsten Monaten einen Entwicklungsvertrag.
Die MBDA-Tochter TDW rüstet auch Kamikaze-Drohnen mit Gefechtsköpfen aus.
Gottschild: Ja, unsere Tochter TDW liefert für Drohnen der deutschen Firma Stark die Wirksysteme, bestehend aus Gefechtskopf und Zündelektronik.
Wollen Sie auch selbst Drohnen bauen?
Gottschild: Wir bauen keine Drohnen, suchen aber die enge Partnerschaft mit Drohnen-Herstellern, denen wir unsere Komponenten zur Verfügung stellen. Wir bieten, was Drohnen betrifft, Schild und Schwert an. Das Schild ist die Drohnen-Abwehr, also etwa unser System DefendAir. Das Schwert sind zum Beispiel Gefechtsköpfe von TDW.
MBDA hat auch schwere Waffen wie den 1400 Kilo wiegenden Taurus im Angebot, der über 500 Kilometer selbst durch tiefe Täler fliegen kann. Die von Putin gefürchteten Marschflugkörper der Bundeswehr werden jetzt modernisiert.
Gottschild: Dazu haben wir im letzten Jahr den Auftrag bekommen. Wir warten und modernisieren den Taurus umfassend in Schrobenhausen. So bleiben die Marschflugkörper einsatzbereit.
Und wann bestellt die Bundesregierung zusätzliche Taurus-Waffen?
Gottschild: Wir stehen bereit, die Produktion kurzfristig anzustoßen. Die Produktionslinie für den Taurus besteht weiter in Schrobenhausen. Wir müssten sie nur wieder in Gang setzen. Weiter äußere ich mich zu dem Thema nicht.
Und damit auch nicht zur Frage, ob Deutschland der Ukraine den Taurus liefern sollte. Fest steht indes, dass in Schrobenhausen und damit erstmals in Europa 1000 Flugkörper für das amerikanische Raketen-Abwehrsystem Patriot hergestellt werden.
Gottschild: Patriot ist ein wichtiges, großes Programm für MBDA. Die neuen Nato-Planungsziele wecken meine Erwartung, dass die Nachfrage nach Patriot-Systemen und damit auch nach Flugkörpern noch größer als die jetzt bestellte Zahl von 1000 ist. Der Bedarf ist hoch. Wir rechnen mit zusätzlichen Patriot-Aufträgen. Langfristige Aufträge wie dieser geben uns die notwendige Planungssicherheit, um weiter investieren zu können.
Wann läuft die Patriot-Produktion in Schrobenhausen an?
Gottschild: Wir sind bei Patriot voll im Zeitplan, was den Produktionshochlauf betrifft. Wir bauen dafür in Aschau neue Fertigungsstraßen für den Raketen-Motor und in Schrobenhausen Produktionsanlagen für die Endmontage. Beides läuft gut. Wir werden ab 2027 Patriot-Flugkörper an die Bundeswehr und Nato-Partner ausliefern.
Der Ukraine-Krieg zeigt auf erschreckende Weise, dass neben Drohnen auch russische Langstreckenwaffen die Bevölkerung terrorisieren. Muss Europa schneller solche Waffen entwickeln? Es gibt entsprechende Vereinbarungen aus dem Jahr 2024.
Gottschild: Wir sehen uns als wesentlichen Akteur der entsprechenden europäischen Initiative Elsa.
Im Zuge von Elsa soll wohl ein bodengestützter Marschflugkörper mit einer Reichweite von über 2000 Kilometern entwickelt werden.
Gottschild: Wir diskutieren gerade, wie wir uns als MBDA in das Projekt einbringen können. Wir sind in der Lage, solche Langstrecken-Flugkörper zu bauen. Nun brauchen wir Aufträge im Zuge des europäischen Gemeinschafts-Projekts.
Am Ende braucht auch MBDA reichlich Sprengstoff für all diese Projekte. Doch hier gibt es erhebliche Engpässe. Wie lösen sie das Problem?
Gottschild: In Europa gibt es zwei Hersteller. Um uns entsprechend mit solch kritischen Grundstoffen zu versorgen, kaufen wir diese mittlerweile weltweit ein. Der Aufbau von nationalen Produktions- und Bevorratungskapazitäten kann die Abhängigkeit – langfristig und im akuten Falle eines Verteidigungsszenarios – verringern.
Zur Person: Thomas Gottschild, 56, arbeitet seit Juli 2016 als Geschäftsführer für MBDA Deutschland und als Mitglied des Executive Committee von MBDA. Als Executive Group Director Strategy ist er für die strategische Ausrichtung von MBDA verantwortlich. Gottschild gehörte seit 1996 Airbus Defence & Space an. Nach dem Abitur 1988 trat der Manager für zwei Jahre in die Bundeswehr ein. Darauf absolvierte er ein Studium der Elektrotechnik an der Universität Siegen.
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