Niemand soll im Jahr 2050 mehr auf Europas Straßen sterben. Dieses Ziel hat sich die Europäische Union gesetzt – und will ihm mit einer neuen Führerscheinrichtlinie ein großes Stück näher kommen. Die wohl umstrittenste Idee in dem Entwurf: Autofahrerinnen und Autofahrer, die über 70 Jahre alt sind, sollen sich alle fünf Jahre einer Prüfung zur Fahrtauglichkeit unterziehen. Dieser Plan, der erst noch das EU-Parlament passieren muss, wird höchst kontrovers diskutiert. Die bayerische Staatsregierung erteilt ihm eine klare Absage.
Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sieht "für einen gesetzlichen Zwang zu Gesundheitsscreenings für alle älteren Personen keinen Anlass" und nennt sie "altersdiskriminierend". Nur weil jemand eine bestimmte Altersgrenze erreicht habe, sage das nichts über seine individuelle Eignung zum Autofahren aus, sagte Herrmann unserer Redaktion. Viele ältere Autofahrerinnen und Autofahrer verfügten über eine jahrzehntelange Fahrpraxis. "Normale altersbedingte Beeinträchtigungen gleichen sie etwa durch eine defensivere und umsichtige Fahrweise aus." Entscheidend sei, bei der Eigenverantwortung anzusetzen: "Unabhängig vom Alter sollten sich alle Verkehrsteilnehmer regelmäßig selbstkritisch hinterfragen, ob sie in der Lage sind, sicher am Straßenverkehr teilzunehmen." Speziell für ältere Menschen gebe es bereits die Möglichkeit, freiwillig an professionellen Sicherheitstrainings teilzunehmen.
Ältere Fahrerinnen und Fahrer sind seltener in Unfälle verstrickt als jüngere
In Deutschland dokumentiert das Statistische Bundesamt jährlich, wer an Verkehrsunfällen beteiligt ist. Ältere sind gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung seltener darin verstrickt als Jüngere. Im Jahr 2021 waren rund 15 Prozent aller Unfallbeteiligten älter als 65, unter den Bundesbürgern nehmen sie einen Anteil von 22 Prozent ein. Das Amt führt den Unterschied darauf zurück, dass ältere Menschen seltener im Auto unterwegs sind als jüngere – allein schon, weil sie sich den Arbeitsweg sparen. Wenn Senioren über 65 in einen Unfall verwickelt sind, dann sind sie in zwei Dritteln der Fälle aber auch die Verursacher, bei über 75-Jährigen sogar in drei von vier Fällen. Rentner missachten überdurchschnittlich häufig die Vorfahrtsregeln. Beim Abstandhalten sind sie jedoch vorbildlich und fahren seltener als Junge zu schnell.
Der EU-Vorschlag soll jetzt innerhalb der Fraktionen im Bundestag diskutiert werden. Er lasse viel Freiheit bei der Umsetzung, erklärt Mathias Stein, SPD-Verkehrsexperte in Berlin. "Die Bandbreite reicht von verpflichtenden Maßnahmen wie ärztlichen Untersuchungen und Fahrüberprüfungen bis hin zu freiwilligen Ansätzen wie Selbsteinschätzungen." Freiwilligkeit sollte immer den Vorrang vor Zwang haben, sagt Stein. "Hier haben wir bei Weitem noch nicht unsere Möglichkeiten ausgeschöpft."
Seniorenvertreter betont die Wichtigkeit des Führerscheins für Senioren
Den Begriff "Altersdiskriminierung" verwendet auch Franz Wölfl, Vorsitzender der Landesseniorenvertretung Bayern. Er ist überzeugt davon, dass viele Seniorinnen und Senioren freiwillig auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen würden, denn vielen sei der Verkehr zu gefährlich. Allerdings müsste man seiner Ansicht nach finanzielle Anreize setzen, indem Menschen ab einem bestimmten Alter beispielsweise kostenlos den ÖPNV benutzen dürften.
Nicht vergessen dürfe man aber: "Gerade im Alter bedeutet mobil sein, gesellschaftlich dabei sein. Wer älteren Menschen ihren Führerschein oder ihr Auto wegnimmt, nimmt ihnen gerade in ländlichen Gebieten auch ihre Möglichkeit, raus aus der Wohnung zu kommen. Damit droht das ohnehin große Problem der Einsamkeit im Alter sich noch zu vergrößern."