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"Wir sind heimatlos"

Folgen der Geschichte

"Wir sind heimatlos"

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    Ein im wahrsten Sinn einschneidendes Ereignis traf das Allgäu im Jahr 1810. Mitten durchs Land wurde eine Trennlinie gezogen und damit eine Teilung zementiert, die bis heute andauert. Die Rede ist von der Staatsgrenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg. Sie war, grob gesprochen, eine Folge der napoleonischen Kriege, die in den letzten Jahren des 18. und den ersten des 19. Jahrhunderts Europa erschütterten und so vieles durcheinanderwirbelten.

    Ab 1810 existierte ein bayerisches Allgäu und ein württembergisches Allgäu. Von Anfang an herrschte ein gewisses Ungleichgewicht – nicht nur was die Flächengröße angeht (das württembergische Allgäu um die beiden ehemaligen Reichsstädte Wangen und Leutkirch ist erheblich kleiner als das bayerische Allgäu). Auch bei der Wahrnehmung gibt es einen Unterschied. Wenn vom Allgäu die Rede ist, meinen viele das Oberallgäu und Teile des Ostallgäus, vielleicht noch einen Teil des Landkreises Unterallgäu. Oft wird vergessen, dass es jenseits der Grenze zu Württemberg eben auch ein Allgäuer Kernland gibt mit grünen Hügeln. Es ist ähnlich schneereich und oft nasskalt. Und es wird ein Allgäuer Dialekt gesprochen, der sich erfolgreich gegen das (Ober-)Schwäbische gewehrt hat.

    Der Heimatfreund und -forscher Berthold Büchele aus Ratzenried (zwischen Wangen und Leutkirch gelegen) wird richtig zornig, wenn er an die Grenzlinie denkt, die sein schönes Allgäu durchschneidet. Die württembergischen Allgäuer seien dadurch heimatlos, lautet seine Klage. Der „gewaltige Einschnitt“ von 1810 wirke bis heute nach. Als Beispiele nennt er die Abneigung der Bayern gegenüber den Württembergern. Oder die unterschiedlichen Gesetze hüben und drüben. Aber auch ganz praktische Dinge nerven ihn, etwa unterschiedliche Lehrpläne und Ferienzeiten für Schüler.

    Will man die historischen Veränderungen von 1810 verstehen, muss man die Situation vor dem Jahr 1803 betrachten. Das Allgäu war bis dahin – so ungefähr – das hügelige Alpenvorland westlich des Lechs. Weder im Westen noch im Norden gab es festgelegte Grenzen. Als politisches Gebilde wurde das Allgäu sowieso nie verstanden. Und ein Bewusstsein in der Bevölkerung existierte wohl auch nur rudimentär, wie Heimatforscher immer wieder feststellen.

    Vor dem sogenannten Reichsdeputationshauptschluss und der einhergehenden Säkularisation im Jahr 1803 gab es im Allgäu eine Vielzahl von Herrschaftsgebieten. Es war ein politischer Fleckerlteppich. Die napoleonischen Eroberungs-Feldzüge machten der aus dem Mittelalter stammenden Ordnung ein Ende. An Frankreichs Seite standen das Kurfürstentum Bayern und das Herzogtum Württemberg. Für die Abtretung ihrer linksrheinischen Gebiete an Frankreich wurden die beiden Länder von Napoleon mit Gebietszuwächsen belohnt. Bayern erhielt große Teile des Allgäus, darunter auch die ehemaligen Reichsstädte Wangen und Leutkirch. Württemberg erhielt Oberschwaben.

    Allerdings wechselten auch nach 1803 immer wieder Herrschaftsgebiete ihre Eigentümer. Am 3. Juni 1806 schlossen Bayern und Württemberg, die seit Jahresbeginn Königreiche waren, einen Grenzvertrag, der endgültig sein sollte. Demnach hätte das gesamte Allgäu bayerisch werden sollen. Wie Alfred Weitnauer in seinem Standardwerk „Allgäuer Chronik“ erklärt, wurde jedoch nur ein kleiner Teil des Grenzvertrages vollzogen. Das Königreich Württemberg erhielt die Souveränität über Eglofs und Siggen, Neuravensburg und die Grafschaft Isny (alles Westallgäu).

    1808 wurde das Königreich Bayern neu eingeteilt. 15 Kreise entstanden. Das Allgäu lag zum Teil im Illerkreis (Hauptstadt Kempten), zum Teil im Lechkreis. Am Aufstand der Tiroler und Vorarlberger gegen die bayerische Herrschaft 1809 beteiligten sich auch viele Allgäuer. Vor allem das Westallgäu und das südliche Oberallgäu kämpften Seite an Seite mit den Österreichern gegen die verhassten Bayern und Franzosen.

    Im Oktober 1809 schlossen Österreich und Frankreich den „Schönbrunner Frieden“. Er brachte Bayern abermals Gebietserweiterungen. Abtreten musste Bayern aber die Stadt Wangen und Ratzenried. Das Kleine Walsertal kam wieder zu Österreich.

    Am 18. Mai 1810 wurde im Staatsvertrag von Paris die Grenze zwischen Bayern und Württemberg neu festgelegt. „Und zwar im großen und ganzen so, wie sie noch heute verläuft“, erklärt Alfred Weitnauer in seinem Geschichtsbuch. Württemberg erhielt nun von Bayern die Städte Leutkirch und Wangen sowie alles, was dazwischen lag.

    Wie schlimm war diese neue Grenze für die Menschen damals? Berthold Büchele lässt kein gutes Haar an ihr. Vor allem weil der württembergische König versuchte, den Allgäuern ihre Kultur, ihr Brauchtum und ihre Religion madig zu machen. Die neuen Gesetze schmeckten ihnen nicht. Aber war das auf der bayerischen Seite anders? Heimatforscher Jochen König aus Kempten verneint. Die bayerischen Allgäuer haderten auch – mit der Regierung in München.

    Bis heute ist die Grenzlinie ein Ärgernis für viele Menschen in unserer Region. Aber sie ist – auf absehbare Zeit – nicht wegzuwischen. Deshalb halten es begeisterte Allgäuer für wichtig, das Regionalbewusstsein hüben wie drüben zu stärken und grenzüberschreitende Aktivitäten zu entwickeln.

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