Sein Blick ist nach oben gerichtet. Auch wenn es gerade bergab geht. Steil bergab. Die Gondel der Nebelhornbahn bringt Alfons Hörmann an diesem wunderschönen Frühlings-Skitag wieder hinunter ins Tal nach Oberstdorf. Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, wirkt fast ein wenig nachdenklich in diesen Momenten, in denen die Gipfel der Allgäuer Berge mehr und mehr verschwinden und dunkle Felsen links und rechts den zuvor endlosen Weitblick immer weiter schmälern.
Es ist mucksmäuschenstill in der Kabine. Kein Wunder: Die redseligen Hausfrauen und rüstigen Rentner, die am frühen Montagmorgen mit hochfuhren, sind alle noch oben im Skigebiet. Keiner von ihnen denkt im Traum daran, sich schon vor dem Mittag wieder den lästigen irdischen Verpflichtungen hinzugeben. Hörmann hat keine andere Wahl. Sein Terminkalender diktiert ihm: „Du musst um 11 Uhr zurück ins Tal. Zurück in den Alltag. Zurück in die geschäftige Welt der Manager und Wirtschaftsbosse“.

Hörmann, das ist das Verwunderliche, hadert in dieser Situation nicht einmal mit seinem Schicksal, sondern löst es auf seine ganz eigene und doch wieder so typische Allgäuer Art: Der 55-jährige Sulzberger holt Luft, saugt innerhalb von drei, vier Sekunden all das Naturschauspiel, all das Gipfelglück und all den Zauber des Skifahrens der letzten zweieinhalb Stunden noch einmal auf, speichert es mit einem genüsslichen „Schee war’s“ ab und sagt: „Ma sott eigentlich viel öfter do nauf“.
Mit diesem unverbindlichen „Ma sott“ („Man sollte“) beginnt der Allgäuer gerne Sätze, bei denen er über Aufgaben, manchmal auch Vorhaben und Ziele berichtet, für die ihm aber entweder die Zeit, die Lust oder die Muße fehlen. „Ma sott mol wieda in’d Kiecha gau“ heißt zum Beispiel ins Hochdeutsche übersetzt so viel wie „Oje, jetzt haben wir den Sonntagvormittag auch schon wieder verbummelt.“
Pragmatiker, Ärmelhochkrempler und Anpacker
Wie oft Alfons Hörmann den sonntäglichen Kirchgang schafft, ist nicht übermittelt. Ein häufiger „Ma sott“-Sager ist er aber auf keinen Fall. Und das aus drei Gründen: Den Allgäuer Dialekt unterdrückt er qua Amtes immer häufiger, das unbestimmte „man“ haben ihm Führungs- und Rhetoriktrainer schon vor langer Zeit auf die Geht-gar-nicht-Liste gesetzt und überhaupt: Zeit, Lust und Muße spielen bei Hörmann eine eher untergeordnete Rolle.
Er gilt als Pragmatiker, Ärmelhochkrempler und Anpacker. Wie sonst hätte er es dazu gebracht, Deutschlands Sportthron zu erklimmen. Ein rasanter Aufstieg auf der Funktionärsleiter, die er im Jahr 2002 erstmals bestiegen hatte, als er als Sponsor der Nachwuchsrennserie Creaton-Cup zum Vorsitzenden des Allgäuer Skiverbandes gewählt wurde, und die ihn dank seiner Zielstrebig- und Beharrlichkeit über den Bayerischen und Deutschen Skiverband bis an die verantwortungsvollste Stelle im deutschen Sport geführt hat.
Oberster Chef von 90.000 Sportvereinen

Als Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes ist Hörmann seit Dezember 2013 Chef einer Dachorganisation, der insgesamt 98 Sportverbände mit 90.000 Sportvereinen und 27 Millionen Mitgliedern angehören. Voller Stolz lässt der gefragte Gast- und Festredner Hörmann diese Zahlen immer wieder fallen, spricht von der größten Bürgerbewegung des Landes und fügt hinzu: „So viele Mitglieder haben nicht einmal die beiden großen Kirchen in Deutschland“. Amen.
Über alles erhaben zu sein, über den Dingen zu stehen, das gelingt Hörmann an diesem Vormittag ohne großes Zutun. Auf 2224 Meter Höhe hat die Gondel ihn und seine Frau Cordula gebracht. Bevor sich die beiden ihre Skier anschnallen, genießen sie auf der Panoramaterrasse der Gipfelstation den atemberaubenden Blick auf 400 im Morgenlicht strahlende Berggipfel.
„Wahnsinn“, brummelt Hörmann leise vor sich hin, um die Ruhe nicht zu stören, als er durchs Fernrohr blickt. Ist es Zufall, dass der mächtige Gipfelstürmer Hörmann zuallererst die höchsten Gipfel ins Visier nimmt? Orientiert man sich in solchen Spitzenpositionen immer an ganz oben?
Hörmann muss in diesem Augenblick aber auch erkennen, dass Größe manchmal nur eine Frage der Perspektive ist. Nicht der im Osten so gewaltig dastehende und scheinbar alles überragende Gipfel des Hochvogels ist zu seiner Verwunderung die höchste Erhebung der Allgäuer Alpen, sondern die beiden ans Lechtal angrenzenden Riesen Großer Krottenkopf und das Hohe Licht. „Die verstecken sich da hinten ja fast“, murmelt Hörmann.
Der DOSB-Chef hatte Olympia 2024 in Hamburg im Visier
Verstecken kann Hörmann sich bei seinen Ausflügen in die Heimat nicht mehr. Schnell knipst er noch ein paar Handyfotos von sich und seiner Frau unterhalb des Gipfelkreuzes – und schon ist die Ein- bzw. immer seltener gewordene Zweisamkeit wieder vorbei.

Viele der Einheimischen kennen und grüßen ihn. Hörmann hat sich für die Begegnung mit ihm bekannten Gesichtern so etwas wie ein Ritual angewöhnt. Er geht auf sie zu, hebt den Kopf, lächelt, sagt ein langgezogenes „Soooo“, streckt seine Hand zum Gruß, nickt und bringt die gleichermaßen fragende wie feststellende Allgäuer Begrüßungformel zu Ende: „Au doa“.
„Auch da“ ist an diesem Vormittag der frühere Oberstdorfer Bürgermeister Eduard Geyer, der für seine knapp 80 Jahre noch erstaunlich gut und sicher Ski fährt. Hörmann ahnt, dass diese Begegnung eine harte Nuss werden könnte – und seine erste Abfahrt auf zwei Brettern noch warten muss. Mit „Soooo, au doa“ und einem netten Smalltalk ist es bei Geyer nicht getan. Dafür, dass Geyer in den letzten Jahren Hörmann in Leserbriefen immer wieder attackiert hat und ihm fehlendes Verhandlungsgeschick bei den Oberstdorfer WM-Bewerbungen vorgeworfen hat, gibt er sich heute beim Tête-à-tête zahm: „Und? Wie schaut’s aus mit Olympia?“, will Geyer wissen.
Hörmann, dessen größte Herzensangelegenheit es seit Jahren ist, die Olympischen Spiele wieder nach Deutschland zu holen, hätte jetzt stante pede einen zweistündigen Vortrag über die Bewerbung Hamburgs halten können – schließlich war er gerade erst eine Woche in der Hansestadt, um das zweifelsohne größte Projekt seiner Amtszeit zum Erfolg zu führen.
„Gut, alles im Plan“, lässt er Geyer wissen. Aber Details gibt er keine preis – oder will sie nicht preisgeben. Vielmehr schmeichelt er dem Alt-Bürgermeister mit Lobeshymnen auf die Oberstdorfer Pistenpräparierung: „Mensch, für Mitte April habt ihr ja noch super Bedingungen. Auf geht’s.“
Der Kampf um Sicherheit und Vorbildfunktion
Ab geht’s. Hörmann ist nicht hierhergekommen, um über Sportpolitik zu philosophieren. Das macht er schon den Rest der Woche. Hörmann tankt auf. Frischluft statt Büromief. Sonne statt künstlich beleuchteter Besprechungszimmer. Am liebsten hätte er es ja, ihm würde der Wind beim Skifahren um die Ohren blasen.
Doch seit 2009 weiß er um seine Vorbildfunktion. Als Präsident des Deutschen Skiverbandes hatte er beim Alpin-Weltcup in Ofterschwang für mehr Sicherheit auf der Piste geworben, sich öffentlichkeitswirksam die Hartschale auf den Kopf gezogen und gestanden: „Ich hatte noch nie einen auf.“ Klar, dass es anschließend Kritik hagelte. Seitdem ist „oben ohne“ beim Skifahren auch für Hörmann out – erst recht, wenn ihn Reporter und Fotograf begleiten.
Mit gekonntem Kurzschwung wedelt Hörmann die Piste hinab, hat Freude am steigenden Tempo und beweist Ausdauer – trotz eines erst auskurierten Rippenbruchs, den er sich im vergangenen Winter beim freien Skifahren während der Alpin-WM im amerikanischen Beaver Creek zugezogen hatte. „Geht schon wieder“, hat Hörmann gelernt, seine mit 55 Jahren zunehmenden Zipperlein zu ertragen. Begegnungen mit Ärzten und Heilpraktikern, so hört man, lasse Hörmann angesichts des Termindrucks auch mal auf fünf Uhr morgens an die Autobahnraststätte verlegen.
Arbeitstage haben nicht selten 20 Stunden

Hörmanns Tage haben, seitdem er die Verantwortung für den deutschen Leistungs- und Breitensport sowie für wenig dankbare Themen wie Zuschuss-Vergaben und Anti-Doping-Kampf übernommen hat, nicht selten bis zu 20 Stunden.
Denn so ganz nebenbei ist er ja auch Geschäftsführer und Chefstratege für 3500 Mitarbeiter der Hörmann-Gruppe in Kirchseeon bei München, mit deren Firmengründer er weder verwandt noch verschwägert ist, und die jährlich 590 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Wie das alles machbar ist? Nur eine Frage der Organisation, behauptet er.
Heute bedeutet das, schon um kurz vor elf die Skier abzuschnallen und Pfüa Gott zu sagen. Dass Eduard Geyer seinen ganzen Mut zusammengenommen hat und Alfons Hörmann beim Einsteigen in die Bergstation noch hinterherruft, dass die Münchner Olympia-Bewerbung mit Oberstdorf als Mitorganisator nie und nimmer gescheitert wäre, quittiert Hörmann zwar noch mit einem „Ja, ja“.
Der 55-Jährige weiß aber auch: So geschmeidig und locker, wie er hier in Oberstdorf die kleinen Hindernisse umfährt, hat er es außerhalb des Allgäus nicht. Immerhin durfte er in der Heimat Kraft und Kondition tanken für die sportpolitischen Buckelpisten-Fahrten in Frankfurt, Hamburg, Sotschi oder Lausanne. Deshalb sagt er fünf Minuten später auch: „Ma sott viel öfter do nauf“.
Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin "Griaß di' Allgäu", Ausgabe Winter 2015/16. Alle Informationen zur aktuellen Ausgabe findest Du auf www.griassdi-allgaeu.de