Das "Café Klatschmohn" in Memmingen ist alles andere als ein normales kleines Lokal. In der Einrichtung, die von den Unterallgäuer Werkstätten und der Lebenshilfe Memmingen/Unterallgäu e.V. betrieben wird, arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Das ergibt – um in der Kaffeehaussprache zu bleiben – eine Melange aus viel Liebe, Herzlichkeit und manch ungewöhnlichen Situationen.
Das muss man gesehen haben: Da tobt im Herbst 2019 vorne im Café das ganze Tohuwabohu. Der bayerische Ministerpräsident ist da. Die Allgäuer Zeitung hat zu einer Bürgersprechstunde eingeladen. Aufgeregte Büromitarbeiter, Lokalpolitiker und Journalisten. Streng dreinblickende Leibwächter. 60 Menschen, die dafür sorgen, dass das kleine Altstadt-Café fast aus allen Nähten platzt.
Doch hinten in der Küche geht es um ... Semmelknödel! Anstatt einen Blick auf die prominenten Gäste zu erhaschen oder sich von der Nervosität anstecken zu lassen, bereiten die Mitarbeiter des Inklusions-Cafés in aller Seelenruhe das Mittagessen für den nächsten Tag vor. Während einige Meter entfernt Markus Söder über Wohnungsbau, Digitalisierung an Schulen und die Sorgen der Allgäuer Landwirte spricht, formen sie 50 Knödel mit ihren Händen.
Eine Oase der Ruhe und Unaufgeregtheit
Kaum etwas beschreibt das Café Klatschmohn in Memmingen besser. Inmitten all der Hektik und des Alltagstrubels ist es eine Oase der Unaufgeregtheit, Uneitelkeit und der Normalität. "Das einzige, was man hier schnell lernt, ist zu entschleunigen", sagt Angela Weissenhorn.
Zusammen mit sieben Mitarbeiterinnen kümmert sich die Gruppenleiterin um zwölf Menschen mit Behinderung, die im Café Klatschmohn arbeiten. Menschen mit Down-Syndrom, Autismus, Lernbehinderung oder psychisch Erkrankte. Dank der Unterallgäuer Werkstätten (UAW) und ihrem Gesellschafter Lebenshilfe Memmingen/Unterallgäu e.V. können sie hier einer Arbeit nachgehen. Mitten in der Altstadt, mitten im (Berufs-)Leben.
"Wir hören von Eltern oft den Wunsch, ihrem Kind eine Stelle in einer Bäckerei oder in der Gastronomie zu beschaffen. Hier im Café Klatschmohn können wir ausprobieren und schnell feststellen, was ein behinderter Mitarbeiter leisten kann und was nicht. Hier ist immer ein Betreuer dabei, der sofort eingreifen kann", sagt Angela Weissenhorn, die auf viel Gastro-Erfahrung zurückblicken kann.
Die Bedürfnisse der Mitarbeiter stehen an erster Stelle
Lange betrieb sie unter anderem die "Weinstube zur Eiche" - einen Steinwurf entfernt auf der gegenüberliegenden Seite des Memminger Stadtbachs. "Früher stand ich ständig unter Strom. Immer noch eine Schippe drauf, alles musste schneller gehen. Mit dieser Einstellung würde ich hier Schiffbruch erleiden."
Denn in diesem besonderen Café stehen nicht die Bedürfnisse der Gäste, sondern die der Mitarbeiter an erster Stelle. Doch wer denkt, die Gastfreundlichkeit käme deshalb zu kurz, der irrt gewaltig!
Schon die liebevoll gestaltete Einrichtung und Deko lädt zum Verweilen ein. Eine täglich wechselnde Mittagskarte, verschiedene Frühstücksangebote (zur Speisekarte) und vor allem die selbstgebackenen Kuchen und Torten lassen den Besuchern das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und wer fürchtet, dass in einem Café mit behinderten Mitarbeitern eine niedergeschlagene Atmosphäre herrsche, dem sagt Angela Weissenhorn: "Ich habe noch nie so viel gelacht wie hier. Wir haben es jeden Tag lustig!"
Gelebte Inklusion - und Lebensfreude, die ansteckt
Davon können sich die AZ-Reporter bei ihren Besuchen im Klatschmohn überzeugen. Wir werden jedes Mal vor Lebensfreude, Herzlichkeit und Neugier fast umgehauen. "Was macht ihr mit dem Mikrofon?", oder "Was habt ihr da für eine Kamera? Ich fotografiere auch!", werden wir gelöchert. Die Herzenswärme steckt an. Und auch auf unsere Frage, ob die Arbeit Spaß macht, ernten wir die überzeugendste aller Antworten: fröhliches Lachen und nach oben gestreckte Daumen!
Freilich: Auch die Gäste müssen sich auf die besondere Situation einlassen. Inklusion bedeutet eben nicht, wir sind alle gleich. Sondern: Es ist völlig normal, verschieden zu sein. Im "Klatschmohn" werden Barrieren und Berührungsängste abgebaut, Normalität im Umgang miteinander gepflegt. Auch, wenn man vielleicht mal etwas länger auf seinen Cappuccino warten muss.
Lebenshilfe: Kampf gegen Widerstände zahlt sich aus
Nur einmal habe eine Frau mit ihrer Tochter das Café betreten, die Mitarbeiter gesehen und dann laut gerufen: 'Komm wir gehen wieder, hier arbeiten ja Behinderte...' "Ich habe das leider zu spät mitbekommen, sonst wäre ich ihr hinterher", sagt Angela Weissenhorn mit einer Mischung aus Zorn und Kampfeslust in ihrer Stimme.
Denn genau diese Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung macht die Einrichtung so wertvoll. "Wir erleben, wie unsere Mitarbeiter an ihren Aufgaben wachsen ", sagt Jutta Maier. "Hier müssen sie zu den Leuten an den Tisch, mit ihnen sprechen, ihre Bestellung aufnehmen. Und sie bekommen unmittelbar ein Feedback. Das fördert ihr Selbstbewusstsein ungemein", so die Vorsitzende der Lebenshilfe Memmingen/Unterallgäu.
Anfang 2017 kämpfte sie mit Mitstreiterinnen dafür, dass das UAW-Café in die Räumlichkeiten mitten in der Memminger Altstadt zieht. "Es gab Widerstände, auch von einigen männlichen Vorstandskollegen", erzählt sie mit einem Schmunzeln.
Maier, seit 2001 Vorsitzende und 2008 für ihr soziales Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, kann die Einwände sogar nachvollziehen. "Wir wussten ja selbst nicht, ob es funktionieren wird. Doch ich muss den Memmingern ein Lob machen: Sie haben uns angenommen." Die Wirtschaftlichkeit - ohne, dass sie vernachlässigt wird - spielt dabei ausnahmsweise mal nicht die allererste Rolle. Denn klar ist auch: "Man braucht hier einen enormen Personalaufwand, weil man eben nicht nur die Gäste, sondern auch die Mitarbeiter betreuen muss."
Und so freuen sie sich über jeden zufriedenen Gast. Über jedes Lächeln eines Mitarbeiters. Über jedes freundliche Wort. Ministerpräsident Markus Söder ist längst wieder in München. Das Café Klatschmohn ist gekommen, um zu bleiben.