Wer den Naturkost-Hersteller Rapunzel im Unterallgäuer Legau besucht, trifft mitten auf dem Gelände auf einen gelben Turm. Dort hängt aus einer Luke ganz oben ein langer Strick herunter, der wie der Zopf von Rapunzel aus dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm aussieht. In dem Märchen geht es unter anderem um den Heißhunger auf Feldsalat, der wiederum in vielen Gegenden Rapunzel genannt wird. Als Joseph Wilhelm zusammen mit seiner damaligen Freundin und späteren Frau Jennifer Vermeulen 1974 eine Selbstversorger-Gemeinschaft auf einem eigenen Bauernhof mit kleinem Naturkostladen in Augsburg gründete, nannten sie das Projekt angelehnt an den frischen Feldsalat „Rapunzel Naturspeisen“.
1979 erfolgte der Umzug nach Kimratshofen (Oberallgäu). 1985 bot sich dann die Gelegenheit, im benachbarten Legau das alte Milchwerk zu kaufen. Dort ist heute der Firmenhauptsitz. Und dort schreibt Rapunzel – mittlerweile angewachsen auf 380 Mitarbeiter – nun die märchenhafte Geschichte des Unternehmens weiter: Vor Kurzem erfolgte der erste Spatenstich für ein neues Besucherzentrum mit Ausstellungsbereich, Schaukaffeerösterei, Bio-Bäckerei, Gastronomie, Bio-Supermarkt, Yoga- und Kochstudio sowie großzügigen Außenanlagen. Mit einer Investitionssumme von 25 Millionen Euro ist es das bisher größte bauliche Einzelprojekt des Naturkost-Pioniers.
Geschäftsführer Joseph Wilhelm (65) sieht im künftigen Besucherzentrum eine „Kultstätte der Lebensfreude“ auf 25 500 Quadratmetern. Das ist die Fläche von gut drei Fußballfeldern. Das dreistöckige Gebäude soll Anfang 2022 eröffnet werden. Rapunzel rechnet mit 150 000 Besuchern pro Jahr. Laut Wilhelm wird das Haus voller Entdeckungsmöglichkeiten stecken und im Ausstellungsbereich auf emotionale und erlebbare Weise Wissen rund um die Themen gesunde Ernährung und Ökologie vermitteln. Der Firmengründer kann sich auch vorstellen, dass Tagesausflügler und Urlauber auf dem Weg in den Süden zum Einkaufen, Entspannen oder zu einem Picknick Halt machen im neuen Besucherzentrum.
Die Bauweise des Gebäudes ist selbstredend nach ökologischen Kriterien geplant. Das tiefgezogene Dach mit glasierten Tonziegeln macht beispielsweise eine Klimaanlage überflüssig. Wenn das Besucherzentrum fertig ist, wird es 50 neue Arbeitsplätze bieten.
Ist so eine große Investition nicht auch ein erhebliches Risiko? Zumal dieser Tage Nachrichten die Runde machen, wonach herkömmlich produzierende Landwirte nicht auf Biobetrieb umstellen sollten, weil die Molkereien gar nicht so viel Biomilch vermarkten könnten. „Das ist speziell ein Problem der Milchwirtschaft“, sagt dazu Geschäftsführerin Margit Epple. Rapunzel verwende für seine Produkte wenig Milch, sondern vor allem Nüsse, Mandeln, Obst und Trockenfrüchte.
Die Zutaten für seine über 600 Produkte bezieht das Unternehmen aus mehr als 30 Ländern – von Europa über Afrika und Indien bis Südamerika. Dafür leistet sich Rapunzel extra eine Abteilung „Rohstoff-Sicherung“. In der Türkei gibt es zum Beispiel eigene Anbauprojekte mit 400 Bauern für Nüsse, Trockenfrüchte oder Aprikosen sowie einer eigenen Verarbeitung in Izmir. „Wir haben vor Ort auch festangestellte Agrar-Ingenieure, die die Produktion überwachen und Schulungen für die Landwirte geben“, sagt Rapunzel-Pressesprecherin Eva Kiene. Derzeit entsteht ein neues Projekt für den Anbau von Haselnüssen in Aserbaidschan. Verbunden damit ist – wie es Rapunzel auch in anderen Ländern auf dem Globus praktiziert – eine Abnahmegarantie für die Bauern. Damit haben diese Landwirte eine gewisse Sicherheit.
Die Hauptabsatzmärkte für biologisch hergestelltes Müsli oder Nusscremes liegen in Deutschland, Italien, Frankreich, Österreich und der Schweiz. Und diese Märkte wachsen weiter. Bedient werden die Fachhändler über das Rapunzel-Vertriebszentrum an der Autobahn-Anschlussstelle Bad Grönenbach, das ebenfalls erweitert wird. Zugelegt hat Rapunzel ferner mit der Übernahme der Firma „Zwergenwiese“ in Schleswig-Holstein, die Bio-Marmeladen und vegane Brotaufstriche herstellt. „Das war 2018 sozusagen eine Märchenhochzeit“, sagt Eva Kiene.
In der Bio-Branche steht der Generationenwechsel an. Die Gründer kommen ins Rentenalter. Kein Problem für Rapunzel. Zum einem will der Chef noch weitermachen. Zum anderen ist nun Leonhard Wilhelm, der Sohn von Joseph Wilhelm und Jennifer Vermeulen, dritter Geschäftsführer. Die märchenhafte Geschichte des Familienunternehmens kann also weitergehen.