Bandscheibenvorfall und Wirbelsäulenverengung drücken auf die Nerven und können nicht nur zu starken Scherzen, sondern auch zu Lähmungen führen. Seit 25 Jahren arbeitet der österreichische Arzt Dr. Alfred Huber im Allgäu, wo er unter anderem diese Leiden behandelt. Dabei hat sich das Bild seiner Patienten verändert, berichtet der Leiter des Gelenk- und Wirbelsäulenzentrums der Rotkreuzklinik in Lindenberg. Er beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema.
„Das sieht aus wie der lose Mantel eines Fahrradreifens, aus dem der Schlauch herauskommt“, verbildlicht es Huber. Das weiche Innere drückt also an einer brüchig gewordenen Stelle aus dem Mantel. Dabei handele es sich jedoch nicht, wie im Internet häufig behauptet, um eine Gallertmasse, betont der Arzt. Treffender sei der Vergleich mit einem Gummiball. Der Vorfall kann zunächst folgenlos bleiben. Doch drückt der Kern der betroffenen Bandscheibe auf einen der Nerven, die aus dem Wirbelkanal in den Körper verlaufen, führt dies zu Problemen. „Die entscheidende Frage ist, wo der Vorfall raus kommt“, fasst Huber zusammen.
Dabei verengt sich die Bahn in der Wirbelsäule, durch die die gebündelten Nerven laufen. Das geschieht, weil die Wirbel verkalken, sich abnutzen oder verknöchern. Es handelt sich um einen natürlichen und chronischen Prozess, der mit zunehmendem Alter alle trifft.
Ein Bandscheibenvorfall ereignet sich häufig bei 30- bis 45-Jährigen, die Wirbelsäulenverengung ist eine Alterserscheinung und trifft auch sonst gesunde Senioren. Huber berichtet, dass sich die Zusammensetzung seiner Patienten stark verändert hat: Zu Anfang seiner Arbeit im Allgäu habe er größtenteils Menschen mittleren Alters mit Bandscheibenvorfall behandelt. Heute, mit zunehmenden Alter in der Bevölkerung, seien zwei Drittel von der Wirbelsäulenstenose betroffen.
Schmerzen strahlen in beiden Fällen zuerst in die Glieder aus. Bei längeren oder heftigen Bandscheibenvorfällen können die Nerven absterben, was zu Lähmungen in Armen und Beinen führen kann. Das merken Betroffene beispielsweise daran, dass ihnen die Kraft in Teilen des Fußes fehlt und sie dadurch ihren Gang verändern. Ebenso kann etwa die Greifkraft einer Hand eingeschränkt sein. Welche Körperteile betroffen sind, hängt davon ab, an welcher Stelle der Wirbelsäule ein Bandscheibenvorfall oder eine Wirbelkanalstenose auf die Nerven drückt. In extremen Fällen kann ein Vorfall zu Inkontinenz und bei Männern zu Impotenz führen. Tritt das Innere einer Bandscheibe aber an einer Stelle aus, wo es auf keinen Nerv drückt, tauchen andersrum gar keine Symptome auf. Wie stark ein Patient die Schmerzen wahrnimmt, hängt laut Huber mit dessen Lebenssituation insgesamt und seinem daraus resultierenden psychischen Zustand zusammen: Wer etwa mit seinem Chef und der Arbeit unzufrieden ist, leide stärker als jemand, der sich frisch verliebt hat.
Der Hausarzt wird üblicherweise zu einem Neurochirurgen überweisen. Dieser befragt seinen Patienten nach seinen Problemen, sodass er die betroffene Bandscheibe grob lokalisieren kann. Huber wendet zudem einen Schmerzfragebogen an. Gewissheit gibt zudem eine Kernspintomografie.
Sowohl hinter dem Bandscheibenvorfall als auch hinter der Wirbelkanalstenose stecken Abnutzung und Degeneration. „Das gilt auch schon bei 30- bis 40-Jährigen“, sagt der Leiter des Lindenberger Zentrums. Denn auch in diesem Alter verliere das Gewebe bereits an Elastizität. Kaum eine Rolle spielt laut Huber der Beruf: Wer hinter einem Schreibtisch sitzt, könne genauso einen Bandscheibenvorfall bekommen wie jemand, der körperlich arbeitet. Ständige schwere körperliche Arbeit könne, genau wie viel zu viel sitzen, die Gefahr erhöhen. „Zu viel spielt klarerweise immer eine Rolle in der Medizin“, sagt Huber. Ein Mikrotrauma, also eine kleine Verletzung durch eine plötzliche schwere und womöglich ungewohnte Belastung, kann den Vorfall auslösen.
Wenn es darum geht, durch Bewegung die Gefahr eines Bandscheibenvorfalls zu senken, greift Huber auf den griechischen Philosophen und Naturforscher Aristoteles zurück: Dieser sprach sich stets für die Mitte zwischen Übermaß und Mangel aus. Also: „Bewegung, Bewegung, Bewegung, das muss aber kein Leistungssport sein, sondern ein längerer Spaziergang pro Tag hilft schon.“ Kommt es trotzdem zu einem Bandscheibenvorfall, hilft beim Großteil der Patienten eine konservative Therapie: Schmerzmittel und Krankengymnastik kommen dabei etwa zum Einsatz. Huber spricht auch von Parallelwelten der Medizin, wenn Osteopathie dem Patienten helfe. „Aber wer heilt, hat Recht“, sagt er.
Nur rund zehn Prozent der Patienten müssen operiert werden. Dabei handle es sich um die „wirklich dramatischen Fälle“, bei denen schlimme Lähmungen drohen. Weil kein Eingriff ohne Risiko ist, halten die Ärzte den Zugang stets so klein wie möglich. Sie operieren daher entweder mit Mikroskop oder Endoskop. In beiden Fällen gehe es darum, Druck vom Nerv zu nehmen. Bei Bandscheibenvorfällen schiebt der Operateur vereinfacht gesagt den Nerv zur Seite. Dadurch wölbt sich der Vorfall vor, sodass der Arzt ihn lockern und entfernen kann. Bei der Wirbelkanalstenose fräsen die Mediziner etwas von dem Knochen weg, der auf den Nerv drückt.