Originalgetreue Stützen und Dachträger prägen das moderne Ensemble an der Keselstraße. Das Licht bricht sich vielfältig an der Streckmetall-Fassade, Innenhöfe, Terrassen, Balkone lassen südländisches Flair aufkommen. Die Nachfrage nach Wohnen in der ehemaligen Sheddachhalle ist aus mehreren Gründen riesig. Ein alter Bekannter hat dort übrigens auch eine neue Heimstatt gefunden: „Pegasus“, das hölzerne Pferd aus der gleichnamigen Diskothek, wohnt jetzt bei einer Mieterin der ersten Stunde.
Claudia Kraft hat sich modern in einem Loft in der Zeile zur Iller hin eingenistet. Wenn sie durch die Wohnung führt, kommt sie aus dem Schwärmen kaum heraus: „Die Lage ist klasse, wenn es nicht zu sehr schüttet, erreiche ich alles mit dem E-Bike.“ Die Aufteilung über drei Ebenen lässt ihr Spielraum für eigene Ideen. 5,50 Meter ragt der Dachspitz über dem Wohnbereich in die Höhe. Platz genug für „Pferdehaltung“. Einer der Hingucker ist eben „Pegasus“, den die 52-Jährige aufwendig restaurieren ließ. Einen Teil ihres Arbeitslebens nimmt die Einrichtung und Vermarktung von Immobilien ein.
Vom Chefarzt bis zum Studenten reicht die Bandbreite ihrer Nachbarn in den anderen 45 Wohnungen: „Alles sehr lässige Leute, man kommt sofort ins Gespräch, wenn man will.“ Die Mischung ergibt sich aus den verschiedenen Größen der Einheiten. Die Ost-Wohnungen ermöglichen einen Blick auf den Fluss und funktionieren wie ein Reihenhaus über drei Ebenen. Im mittleren Trakt wurden kompakte Wohnungen mit 1½ Zimmern errichtet, westseitig zur Keselstraße 2½ Zimmer-Loftwohnungen.
Für die Umwidmung des Industriedenkmals ist die Sozialbau GmbH verantwortlich. In der ehemaligen Weberei zogen im Frühjahr die ersten Mieter in das urbane Quartier ein. Dass die Bewerberliste ellenlang ist, liegt nicht zuletzt am Preis. Die Sheddachhallen sind aktuell das dritte Projekt der Sozialbau im „Kemptener Modell“: Der besondere Mehrwert besteht laut Geschäftsführer Herbert Singer darin, dass nicht nur die Neubauwohnungen für die „bürgerliche Mitte“ um zwei auf acht Euro pro Quadratmeter verbilligt wurden. Durch staatliche Förderung stehen zusätzlich 250 bisher nicht mietpreisgebundene Wohnungen der Sozialbau nun als geförderte Wohnungen zur Verfügung. Haushalte mit Wohnberechtigung zahlen dort 5,50 Euro pro Quadratmeter.
Zurück zur 120 Jahre alten Stahl-Sheddachhallen-Konstruktion. Sie wurde 2017 bis auf die Bodenplatte abgetragen. Für die Planer und Bauleiter galt es, auf das Industriedenkmal sensibel einzugehen. Im Untergeschoss, wo einst die Webstühle lärmten, entstand eine Tiefgarage für 80 Autos sowie Fahrräder. Die zusätzlichen Stellflächen kommen auch den Bewohnern der umliegenden Häuser zugute. Die denkmalgeschützte Backsteinfassade erhielt vier Meter hohe Metall-Isolierglasfenster und wurde im Stil des Klassizismus erhalten. Hunderte Stützen wurden sandgestrahlt, zwischengelagert und wieder aufgebaut. Ein Farbkonzept mit viel Anthrazit unterstreicht die Atmosphäre mit dem Charme der alten Industrie-Anlagen. Auf 16 Millionen Euro beziffert Singer die Kosten – „deutlich über sonstigen Neubaupreisen“.
Wenn man in die Umgebung blickt, ist auf beiden Seiten der Iller letztlich ein neuer Stadtteil entstanden. Die Rosenau wurde über Jahre zu einem viel beachteten Projekt, gegenüber sind nun Spinnerei und Weberei neu belebt, eine Wohnanlagen von Romberg schließt sich nahtlos und harmonisch an.