Es ist Sommer. Die Menschen genießen die Sonne im Freibad, beim Radfahren oder bei einem Café-Besuch in der Stadt. Für den Kemptener Matt Kessler ist das alles undenkbar. Er lebt mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Ein Vogelzwitschern, der Geruch eines Parfums oder das Hupen eines Autos - das alles könnten sogenannte Trigger für den 48-Jährigen sein und einen Flashback auslösen. Ihn also an ein traumatisches Erlebnis erinnern. „Der Gang durch die Stadt ist ein Spießrutenlaufen für mich“, sagt er: „Deshalb gehe ich eigentlich nicht mehr vor die Tür, vor allem nicht allein.“
Am Freitag, 27. Juni ist Welt-PTBS-Tag. Wie es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommt, erklärt Prof. Dr. Markus Jäger, ärztlicher Direktor im Bezirkskrankenhaus (BKH) Kempten: „Es braucht ein Belastungsereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß. Das kann eine Einzelerfahrung sein oder wiederholte mehrfache Traumata.“ Zwischen einem und acht Prozent der Weltbevölkerung seien von PTBS betroffen. In sogenannten Flashbacks erleben sie das Belastungsereignis immer wieder, sagt Jäger.
PTBS durch physische, psychische und sexuelle Gewalt
So geht es auch Kessler. Für den 20-minütigen Fußweg zu seinem Psychotherapeuten einmal in der Woche braucht er drei Stunden. „Ich muss zwischendurch stehen bleiben, weil es mir zu viele Leute sind und ich Angstzustände bekomme“, meint der 48-Jährige. Autofahren darf er selbst nicht. Dafür seien die Medikamente zu stark, die er nehme. Stattdessen begleite ihn eine gute Freundin beinahe überall hin.
Um seinen Schmerz und die Erinnerungen daran zu betäuben, trank Kessler über viele Jahre viel Alkohol und nahm Drogen, wie er sagt. Seit zwei Jahren sei er davon weg. „Aber seitdem kommt alles hoch, was ich bis dahin verdrängt habe“, meint der 48-Jährige. Die Diagnose PTBS bekam er ebenfalls vor zwei Jahren. Davor war er seit seinem 18. Lebensjahr immer wieder in Therapie. Kesslers Eltern seien beide alkoholkrank gewesen und er habe physische, psychische und sexuelle Gewalt im familiären Umfeld erlebt.
Wenn Kessler einen Flashback hat, erstarre er häufig und könne sich dann nicht mehr bewegen. Das erlebe er beinahe täglich. „Das nennt man Dissoziation“, erklärt Jäger vom BKH: „Die Leute sind dann nicht mehr ansprechbar, weil sie kurzfristig den Kontakt zur Realität verlieren.“ Schlafstörungen, innere Anspannung und Reizbarkeit seien ebenfalls typische Symptome von PTBS.
„Ich möchte Menschen helfen, die das Gleiche durchmachen, wie ich“
Die Dissoziation fühlt sich für Kessler an, als stehe er auf einem schwarzen Punkt und alles um ihn herum ist milchig weiß. Dissoziieren ist für den 48-Jährigen das Schlimmste: „Ich fühle mich völlig fremd. Aber es ist für meinen Körper die einzige Möglichkeit, wie ich den Flashback aushalten kann.“ Manchmal nehme er dabei auch seinen Körper anders wahr. Er könne dann seine Beine nicht mehr spüren oder statt seiner Hand sehe er nur noch eine Art Klumpen. Für kommendes Frühjahr habe er einen Platz in einer Traumaklinik, sagt Kessler.
„Ich kann nicht hinausgehen, nicht zum Baden oder Einkaufen. Nicht ins Kino. Das ist quälend“, beschreibt Kessler seine Situation. Grundsätzlich sei PTBS zwar heilbar, erklärt Jäger: „In 20 Prozent der Fälle kann die Krankheit allerdings chronisch werden.“ Wenn Matt Kessler die Krankheit hinter sich hat, würde er gerne wieder Mountainbike fahren und eine Umschulung machen, um im sozialen Bereich arbeiten zu können: „Ich möchte Menschen helfen, die das Gleiche durchmachen, wie ich.“
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