Als Wilhelm Weinbrenner ein kleiner Junge war, musste er sein Zuhause verlassen. Er erinnert sich noch genau an das Bild, wie er mit seiner Schwester an der Hand und vielen anderen weinenden Kindern am Ostbahnhof in München stand. Der Zug fuhr los und die Mutter winkte. „Es war herzzerreißend“, sagt Weinbrenner. Dies sei auch der erste Moment gewesen, in dem er etwas Bedrohliches wahrgenommen hätte. „Etwas Bedrohliches, das ich mir damals nicht erklären konnte.“
Wilhelm Weinbrenner, der 1939 geboren wurde, verstand erst später: Er und seine Schwester wurden während des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Kinderlandverschickung von München nach Ramsau bei Berchtesgaden gebracht. Wegen der Bomben. Weinbrenner erinnert sich an das starke Heimweh, unter dem er damals litt. An die Nächte, in denen er sich mit den Kinderliedern von Zuhause in den Schlaf summte. Und an die Bomben, die schließlich doch über München und über dem kleinen Jungen von damals hereinbrachen. Was jedoch noch viel wichtiger ist: Wilhelm Weinbrenner erzählt. Er ist einer von zehn Zeitzeugen, die im Film „Wir Kinder des Marktes. Zeitzeugen berichten aus Obergünzburg: 1933-1955“ zu Wort kommen. Der 75-minütige Dokumentarfilm von Thorolf Lipp hat nun in Obergünzburg Vorpremiere gefeiert.
So kam das Filmprojekt in Obergünzburg zustande
Wer von den Anfängen des Films berichten will, der landet wieder bei Weinbrenner. Er wohnt mit seiner Frau Christa Weinbrenner in Obergünzburg und engagiert sich seit vielen Jahren im Bereich der Erinnerungskultur. Zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft Lokalgeschichte Obergünzburg befasst er sich mit der Ortsgeschichte, dokumentiert Ereignisse aus der Zeit zwischen 1918 und 1948 und befragt Zeitzeugen. Weinbrenner ist es zu verdanken, dass so viel über das Schicksal von Alois Roth bekannt ist, der in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon in Obergünzburg gelebt hat. Roth wurde als „Unangepasster“ ins Konzentrationslager deportiert. 1945 starb er gewaltsam in Mauthausen.
Dort, wo der Eisenbahnwaggon stand, befindet sich heute eine „DenkStätte“, die über ein Leader-Projekt gefördert wurde. „Und im Rahmen des Leader-Projektes war auch ein Film vorgesehen“, erzählt Weinbrenner. Das pädagogische Konzept sah Interviews mit Zeitzeugen vor, die Schülerinnen und Schülern als Lernmaterial zur Verfügung gestellt werden. „Es war mein persönlicher Wunsch, eine Langfassung daraus machen.“ Ein Film sollte es werden. Aus den 60 Zeitzeugen, die Weinbrenner bereits interviewt hatte, konnte er zehn dafür gewinnen: Arthur Erber, Jörg Gabler, Meinrad Hummel, Hermann Knauer, Emil Lochbihler, Martin Minde, Albertine Schäftner, Gerd Ullinger sowie Christa und Wilhelm Weinbrenner selbst, erklärten sich bereit, mitzumachen. Mit seiner Idee und seinem Konzept wandte sich Weinbrenner schließlich an Thorolf Lipp, Ethnologe und Dokumentarfilmer aus Obergünzburg.
Regisseur schlägt Brücke zwischen Damals und Heute
Thorolf Lipp ist seit 2022 Vorstand der Deutschen Akademie für Fernsehen und Inhaber der Arcadia Filmproduktion. Insgesamt drei Jahre hat er an dem Film gearbeitet. Über 30 Stunden an Material hat er aufgenommen. Die Zeitzeugen erzählten vor seiner Kamera ihre Geschichten von Gewalt und Tod, Flucht und Vertreibung, Ohnmacht und Rechtlosigkeit, aber auch von den Freuden der Kindheit. Den Interviewleitfaden dafür entwarf Weinbrenner. Lipp wertete das Material aus und destillierte die Geschichten heraus, wie er sagt. Mit Kinderbildern der Zeitzeugen schlug er eine Brücke zwischen dem Jetzt und dem Damals. „Es ist das Entscheidende, sich selbst im alten Menschen zu erkennen“, sagt er.
Der Film kommt ganz ohne Knall- und Aha-Effekte aus. Die Geschichten brennen sich ein. „Wer den Film gesehen hat, wird sich an die Bilder erinnern“, sagt Lipp. „Es war eine spannende Möglichkeit, über die Ortsgeschichte zu lernen. Ich hoffe nun, dass es gelingt, eine mediale Form zu finden, die zeitgemäß ist.“ Aus dem Material, das nun bei ihm im Archiv lagert, müsste man viel mehr machen, sagt Lipp. Für ihn stellt sich die Frage, wie es auf Dauer gesichert werden kann. Lipp spricht von einer digitalen Ortsgeschichte, die auch in Zukunft als Quelle zur Verfügung steht, wenn keine Zeitzeugen mehr da sind, die persönlich aus der Zeit erzählen können. „Man muss dranbleiben“, sagt Lipp. „Es waren die 80- bis 90-Jährigen, die diesen Film initiiert haben. Was machen die 30- bis 40-Jährigen?“
Die jungen Generationen in den Blick nehmen. Das ist auch das Ziel von Weinbrenner. „Ich finde es gut, dass das Material bei der Schule liegt“, sagt er. Im neuen Jahr soll der Langfilm im Kino im Alten Rathaus gezeigt werden. Die Termine werden noch bekannt gegeben. Die Vorpremiere war jedenfalls ein voller Erfolg. Der Sitzungssaal des Pflegerschlosses verwandelte sich in ein Kino, in dem die „Protagonisten der Erinnerungskultur“ sich versammelten, wie Bürgermeister Lars Leveringhaus die an der Entstehung des Filmes beteiligten Menschen nannte. Sie erwartete 75 Minuten bewegendes Material, das sie wohl so schnell nicht vergessen werden.
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